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# taz.de -- Inklusion in Schulen: Zu behindert fürs Gymnasium
> Henri ist mit dem Down-Syndrom geboren. Seine Eltern wollen ihn mit
> seinen Freunden aufs Gymnasium schicken. Die Schule lehnt ab.
Bild: Drittklässler mit und ohne Behinderung beim Unterricht in Bayern
Henri lernt jetzt den Unterschied zwischen i und e nicht. „Die beiden
Buchstaben verwechselt er immer wieder“, sagt seine Mutter, Kirsten
Ehrhardt. Henri ist elf Jahre alt und mit Down-Syndrom zur Welt gekommen.
Geht es nach seinen Eltern, soll er bald wie seine Freunde aufs Gymnasium
in Walldorf im Rhein-Neckar-Kreis gehen. Er wäre das erste Kind mit
geistiger Behinderung und ohne Gymnasialempfehlung, das ein Gymnasium in
Baden-Württemberg besucht.
Doch die angefragte Schule will ihn nicht aufnehmen. Im Südwesten und
darüber hinaus wird wegen Henri nun über Inklusion diskutiert. Ist das
Gymnasium der richtige Ort für ein behindertes Kind? Darf Henri, der noch
Buchstaben lernt, im selben Raum sitzen mit Kindern, die die Bruchrechnung
üben. Wie weit soll Inklusion gehen?
Henri besucht zurzeit noch eine normale Grundschule in einer von fünf
Modellregionen in Baden-Württemberg, in denen Inklusion erprobt wird. Er
hat einen Sonderpädagogen an seiner Seite, der mit ihm arbeitet. In seiner
Klasse lernen noch zwei andere behinderte Kinder. Beide haben allerdings
eine Gymnasialempfehlung ebenso wie die Mehrheit der Mitschüler.
Damit Henri sein soziales Umfeld behält, würden ihn seine Eltern gerne mit
den anderen Kindern aufs Gymnasium schicken. „Bei Henri geht viel übers
Herz“, sagt seine Mutter. „Er liebt seine Freunde. Wie soll ich ihm
klarmachen, dass er sich nach der vierten Klasse zwangsweise von ihnen
trennen muss?“
Schon vor gut zwei Jahren hat sich Kirsten Ehrhardt mit ihrem Wunsch an das
Gymnasium in Walldorf gewandt. „Das Schulamt hat sich dafür erwärmt. Und
die Schulleiterin war uns gegenüber immer sehr offen“, erzählt sie.
Praktisch wäre Henris Schulalltag am Gymnasium wenig problematisch. Sein
Sonderpädagoge würde mit ihm auf die neue Schule wechseln.
## Nur ein Lehrer wollte Henri unterrichten
Doch die Eltern, Lehrer und Schüler der Schulkonferenz haben jüngst gegen
die Aufnahme von Henri gestimmt. Zuvor hatte schon die
Gesamtlehrerkonferenz das gleiche Votum abgegeben. Von den knapp 100
Lehrern hätten sich einige bereit erklären müssen, mit der Inklusionsklasse
zu arbeiten.
Aber nur einer hatte sich gemeldet. Das Kultusministerium hat im März
zweimal eine Delegation ans Gymnasium in Walldorf geschickt, um die
Situation zu erklären und Angebote zur Unterstützung zu machen. Umsonst.
Die Schule will weiterhin nur Schüler aufnehmen, die das Abitur erreichen
können.
300 bis 400 Kinder mit – meist körperlicher – Behinderung werden laut
Kultusministerium derzeit an Gymnasien im Land unterrichtet, weil sie es
mit Hilfsmitteln zur Hochschulreife schaffen werden. Henri wird aber
vermutlich gar keinen Schulabschluss machen. Würden alle Regelschulen die
gleichen Bedingungen stellen wie das Gymnasium in Walldorf, könnten die
allermeisten Kinder mit geistiger Behinderung keine besuchen. Doch der
Sprecher von SPD-Kultusminister Andreas Stoch sagt klar: „Jede Schule, jede
Schulart muss sich auf Inklusion vorbereiten.“
Das sieht die Vertretung der Gymnasiallehrer, der baden-württembergische
Philologenverband, anders. Dessen Vorsitzender Bernd Saur verteidigt die
Entscheidung seiner Kollegen in Walldorf. Für Kinder wie Henri, die keinen
Schulabschluss erreichen können, gebe es weder einen Platz auf dem
Gymnasium noch auf einer anderen Regelschule. „Dafür haben wir
Förderschulen in Baden-Württemberg“, sagt er.
## Elternwille gegen Kindeswohl
Eine Förderschule sei der richtige Ort für Henri gerade dann, wenn den
Eltern „eine sozialintegrative Komponente“ so wichtig sei. „Am Gymnasium
wird er Tag für Tag spüren, dass er dem, was da im Klassenzimmer passiert,
nicht folgen kann“, sagt Saur. Er bezweifelt, dass der Elternwille immer
dem Kindeswohl dient. „Wir fühlen uns bei Inklusion gut als Erwachsene und
setzen uns über die Bedürfnisse des Kindes hinweg.“
Kirsten Ehrhardt ist enttäuscht, dass ihr Sohn abgelehnt wurde. Das Motto
des Gymnasium sei „Wahrnehmen und wertschätzen“. „Das stößt mir schon
bitter auf. Wenn es zum Schwur kommt, merkt man: Das ist alles nur Gerede.“
Die Eltern hätten Angst, dass ihre Kinder durch Inklusion von Behinderten
zu kurz kommen könnten.
„Der Fall wird jetzt zur Grundsatzdebatte hochstilisiert, ein Gymnasium sei
ein Hochleistungsbetrieb und müsse es bleiben.“ Die Lehrer des Walldorfer
Gymnasiums hätten die zwei Jahre, seitdem sie zum ersten Mal vorgesprochen
hatte, nicht für Aufklärung und Fortbildungen genutzt, meint Ehrhardt.
Doch Lehrer fühlen sich häufig überlastet, wie eine aktuelle Umfrage der
Gewerkschaft GEW im Südwesten zeigt. Für die zusätzliche Aufgabe der
Inklusion seien nicht genügend Lehrerstellen da, heißt es. 84 Prozent der
Befragten bezeichnen die Inklusion an Grundschulen, Gemeinschaftsschulen
und Realschulen als misslungen. Grün-Rot plant derweil in den nächsten
sechs Jahren 11.600 Lehrerstellen zu streichen.
Auch der „Datenreport Inklusion 2014“ der Bertelsmann Stiftung stellt
Baden-Württemberg ein schlechtes Zeugnis aus. Inklusion im
baden-württembergischen Schulsystem trete auf der Stelle. Der Anteil der
Kinder, die aus dem regulären Schulsystem ausgeschlossen würden, steige:
„Der Anteil an Schülern, die keine Regelschule besuchen, ist in
Baden-Württemberg seit Unterzeichnung der UN-Konvention für den Ausbau des
gemeinsamen Unterrichts nicht gesunken, sondern sogar von 4,7 auf 5,0
Prozent gestiegen.“
## Kritik an der frühen Auslese nach Klasse 4
Ein Bekannter der Ehrhardts, Holger Wallitzer-Eck, der selbst ein Kind mit
Down-Syndrom hat, hat eine Onlinepetition initiiert. Darin schreibt er:
„Henris Grundschulzeit war kein leichter Weg, aber für Henri und alle
anderen Kinder hat es sich bereits ausgezahlt. Sie haben viel voneinander
gelernt.“ Er fordert Kultusminister Andreas Stoch auf, den Schulversuch mit
Henri kraft seines Amtes zu ermöglichen. Über 15.000 Menschen haben diese
Forderung bereits unterzeichnet.
Auch Kerstin Merz-Atalik hat unterschrieben. Sie ist Professorin für
Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Ihre Schwerpunkte
sind Benachteiligung und Inklusion. „In Henris Umfeld ist in den
vergangenen vier Jahren eine inklusive Kultur gewachsen, die man jetzt
unterbrechen würde.“
Verlässliche soziale Beziehungen seien eine wichtige Voraussetzung für das
Heranwachsen und Lernen, sagt Merz-Atalik. „Das gilt für Henri wie für
andere Kinder.“ Sie kritisiert daher die frühe Auslese im deutschen
Schulsystem nach nur vier Jahren und die Signale, die davon ausgingen. „Die
Schüler sehen, dass sich Eltern und Lehrer gegen ein Kind, gegen Henri
entscheiden. Das finde ich problematisch.“
Henris Eltern haben für ihren Wunsch, dass das Gymnasium ihren Sohn
aufnehmen möge, bisher keine rechtliche Grundlage. Grün-Rot wollte das
Schulgesetz ändern, sobald Erfahrungen aus den fünf Modellregionen für
Inklusion vorliegen. Diese starteten schon unter Schwarz-Gelb im Jahre
2010. Merz-Atalik mahnt das Kultusministerium, das Versprechen einzulösen.
Das hat ein neues Schulgesetz für das übernächste Schuljahr in Aussicht
gestellt und setzt derweil im Einzelfall auf Vermittlung. Nach den
Osterferien treffen sich Vertreter anderer Walldorfer Schulen, der Stadt
und des zuständigen Schulamt mit Henris Eltern und werden ihnen alternative
Schulen für ihren Sohn vorschlagen. Davon wollen diese aber nichts wissen.
„Dann würde Henri aus der Gruppe genommen“, sagt Kirsten Ehrhardt. Genau
das wollen sie ja verhindern.
19 Apr 2014
## AUTOREN
Lena Müssigmann
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