# taz.de -- Klassentreffen der Lernaufwiegler: „Besoffen“ in Bregenz | |
> Über tausend Bildungsreformer trafen sich am Bodensee. Sie berauschten | |
> sich an fantastischen Beispielen – und beließen es dabei. | |
Bild: 2011 war es noch voller im Bregenzer Festspielhaus, doch auch zum dritten… | |
BREGENZ taz | Man könnte damit beginnen, dass Richard David Precht nicht | |
kam. Der Bestsellerautor und Philosoph war zwar prominent angekündigt im | |
Programmheft des dritten Treffens des Archivs der Zukunft – eines | |
tausendmaschigen Netzwerks toller Schulen und begeisterter | |
Bildungserneuerer – doch dann fehlt er. Was auch nicht weiter auffiel, nur | |
die Frau vom Bücherstand hatte sich gewundert, dass Prechts Bücher noch | |
stapelweise zu haben waren und sich nicht verkauft hatten. | |
Denn Remo Largo und Harald Welzer, Goetz Werner und Hartmut Rosa waren ja | |
da. Stars auf ihren Gebieten und bekannt über ihre jeweilige Community | |
hinaus. Es wäre aber ganz falsch, mit den großen Namen anzufangen. Man | |
sollte mit Kathrin Leiendecker beginnen. | |
Jeden Morgen, wenn Kathrin Leiendecker in ihre zweiten Klasse einer | |
Brennpunktschule in Wiesbaden kommt, weiß sie genau, was sie ihren Schülern | |
heute vermitteln müsste: Halt, Ermutigung und das Gefühl, Teil einer Gruppe | |
zu sein. Viele ihrer Schüler hätten von Haus aus ein Päckchen zu tragen, | |
das schwerer wiege als die Schulmappe, zwei Sprachen zu Schulbeginn, kein | |
Wort Deutsch, erzählt die junge Lehrerin. | |
Stattdessen soll sie den Stoff abarbeiten und jetzt im zweiten Schuljahr | |
anfangen, Noten zu geben, um den Lernstand der Kinder zu bewerten. Und | |
ihnen so beiläufig mitzugeben: Ihr könnt nicht gerade viel. „Ich bin kurz | |
davor, meinen Kollegen zu sagen: Meine Klasse kann einfach nicht mit dem | |
Leistungsstand anderer Klassen mithalten, gebt mir mehr Zeit.“ | |
## Einfach mal die Noten abschaffen | |
Über Schulen, die längst ermöglichen, was Leiendecker sich wünscht, dreht | |
der Journalist und Erziehungswissenschaftler Reinhard Kahl seit Jahren | |
Filme: über Schulen, die neue Wege gehen und dabei Hindernisse, wie lineare | |
Bewertungssysteme, parallele Bankreihen und verschlossene Klassentüren, | |
fröhlich umstoßen. | |
Mit solch gelungenen Beispielen bestückt Kahl das „Archiv der Zukunft – | |
Netzwerk“, einen Verein, welchen er im Jahre 2007 mit Gleichgesinnten | |
gründete. Drei Jahre nach dem letzten Klassentreffen treffen sich die | |
Lernaufwiegler, wie sie sich nennen, am letzten Oktoberwochenende wieder am | |
Bodensee. Sie kommen aus ganz Deutschland, aus Österreich, aus der Schweiz | |
und eine Gruppe reist auch aus Südtirol in Italien an. | |
Auch Leiendecker ist aus Wiesbaden gekommen und trifft hier auch Carolin | |
Temmel und Anna Becker – ehemalige Kommilitonen, die in Trier unterrichten. | |
Sie haben Kahls Filme im Studium gesehen, nun sind sie mitten unter den | |
Protagonisten, staunen und wärmen sich am Feuer der Schulerneuerer. „Eine | |
unglaubliche Energie ist das hier.“ | |
Schülerinnen, Lehrer, Erzieher, Eltern aus Schulen ohne Noten, ohne | |
Sitzenbleiben, ohne Unterricht; Architekten, Sozialpädagogen, | |
Professorinnen, Unternehmer, Politikerinnen kamen zusammen. Die Gänge und | |
Bühnen des Bregenzer Festspielhauses summen von guten Geschichten, guten | |
Ideen und gutem Willen. | |
## Neue Ideen – doch das Schulsystem ist das alte | |
Gleich zwei Veranstaltungen mit Ulrike Kegeler besuchen die jungen Frauen | |
und sind fasziniert: „Sie war am Anfang ganz allein.“ Kegler machte aus | |
einer gewöhnlichen staatlichen Schule in Potsdam eine staatliche | |
Montessori-Schule und räumte mit dieser 2007 einen der hochdotierten | |
deutschen Schulpreise ab. | |
Als sie nach ihrem Studium als Lehrerin in ihre erste Schule kam, war sie | |
fest entschlossen, es anders zu machen als jene Lehrer, die sie aus ihrer | |
Schulzeit kannte, erzählt Anna Becker. „Und nun merke ich, dass das System | |
noch das alte ist. Man braucht sehr viel Mut, wenn man etwas verändern | |
will. Man eckt an. Und ich frage mich: Wozu bist du bereit?“ | |
Wie begegnet man der Angst vor Veränderung, die das System Schule | |
durchzieht wie Schimmel den Käse? Wie macht man aus ambitionierten | |
Junglehrerinnen wie Leiendecker, Temmel und Becker neue Lernaufwiegler? Wie | |
gewinnt man Verbündete? | |
## Weg von der Insel | |
Das waren Fragen, die in Bregenz nur am Rande diskutiert wurden. Kurz vor | |
Kongressende kommt eine Gruppe von etwa 50 Menschen im Festsaal mit über | |
1.600 Plätzen zusammen. Es wird lebhaft diskutiert: „Ich bin ganz besoffen | |
von all den fantastischen Projekten, aber was mache ich, wenn ich morgen | |
wieder in meiner Schule stehe?“ | |
„Wir müssen weg von der Insel, auf der wir hier sitzen.“ | |
„Ja wir müssen das Netzwerk in die Breite tragen“. | |
„Wir brauchen ein politisches Manifest, um in die Öffentlichkeit zu gehen.“ | |
„Aber wir dürfen nicht vergessen, die Lehrer mitzunehmen.“ | |
Nach eineinhalb Stunden geht man auseinander, die Zeit ist um. | |
Oliver Gunkel-Pfitzner hat mitdiskutiert und sich Notizen gemacht. Nun | |
blickt der Gesamtschullehrer aus Friedberg bei Frankfurt/Main etwas ratlos | |
auf seinen Zettel. „Was mach ich jetzt damit?“ Er findet den Kongress toll, | |
wie aller hier – hält in aber auch für eine wahnsinnige | |
Energieverschwendung. „Die wichtigsten Leute sitzen im Publikum und kommen | |
kaum zu Wort. Stattdessen errichten wir Denkmäler für all die berühmten | |
Reformer hier.“ Und während er das sagt, tragen Arbeiter Sessel und Sofa | |
auf die Bühne. Die nächsten eineinhalb Stunden Frontalberieselung. | |
Andere Fragen wurden ganz ausgeklammert. Vier Jahre nach der Aufdeckung der | |
Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule, der Sündenfall der Reformpädagogik, | |
ist das Thema sexualisierte Gewalt überhaupt kein Thema mehr. Der | |
Präventionsbeauftragte der evangelischen Kirche Hamburg-Ost, Rainer Kluck, | |
wundert sich: „Bei uns brennt die Hütte, wir stoßen ständig auf Menschen, | |
die solche Erfahrungen gemacht haben.“ In Bregenz sei er dagegen auf wenig | |
Resonanz gestoßen. „Es gab einige Gespräche, die aber im Ansatz stecken | |
geblieben sind.“ | |
## Veränderung oder Tod | |
Nur Orchideen zu sammeln, reiche auf Dauer nicht aus, meint der | |
pensionierte Lehrer Jürgen Dege-Riger, der das dritte Mal am Bodensee dabei | |
ist. „Das Archiv der Zukunft muss sich verändern – sonst ist es tot.“ | |
Harte Worte, doch die gesunkenen Teilnehmerzahlen scheinen ihm recht zu | |
geben. | |
Am Tag nachdem die Schulerneuerer Bregenz verlassen haben, steht Kathrin | |
Leiendecker wieder in ihrer zweiten Klasse, hin und her gerissen zwischen | |
den Erwartungen, die Lehrplan, Schulaufsicht und Kollegium an sie stellen | |
und ihren eigenen Überzeugungen als Lehrerin. Anna Becker und Carolin | |
Temmel sind zurück an ihrer Trierer Schule unter Kollegen, die seit über | |
zwanzig Jahren im Beruf sind und genau wissen, wie man es immer schon | |
gemacht hat. „So einen Kongress wie in Bregenz, den müsste es mal bei uns | |
in Trier geben.“ | |
Dass Richard David Precht am Ende doch nicht kam, war eigentlich ein Glück. | |
Für den Soziologen Hartmut Rosa („Beschleunigung und Entfremdung“), der | |
Prechts Hotelzimmer bekam. Und für alle, die Rosas Vortrag über Resonanz | |
und Schule lauschten. Der war großartig. | |
7 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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