| # taz.de -- Lernkultur & Optimierungsdruck: „Es gibt mehr Angst als früher“ | |
| > Sollen sich Eltern um die beste Schule für ihr Kind bemühen? Ja, sollen | |
| > sie, sagt der Bildungsaktivist Reinhard Kahl - aber nicht nur auf die | |
| > Noten schauen. | |
| Bild: "Eltern sind die unterschätzten Akteure in der Bildung", sagt Reinhard K… | |
| taz: Herr Kahl, wenn Eltern eine Schule für ihr Kind auswählen – worauf | |
| sollten sie achten? | |
| Reinhard Kahl: Auf ihr Kind sollten sie achten. Zum Beispiel, ob es eine | |
| Schule ist, in der auch die anderen Kinder aus der Kita gehen. Kinder | |
| sollten ihre Freundschaften fortsetzen können. | |
| Das ist bei der weiterführenden Schule vielleicht schwierig. | |
| Das ist auch nur ein Aspekt. Eltern sollten darauf achten, wo Kinder | |
| willkommen sind, wo es gute Räume gibt, wo die Erwachsenen die Kinder auch | |
| mögen. Dass es nicht eine Schule ist, in der nur das „Durchkommen“ wichtig | |
| ist, in der Lehrer den Stoff nicht nur durchnehmen und die Kinder den | |
| auswendig lernen, um ihn gleich wieder zu vergessen. Sondern Schulen, in | |
| denen es um die Anverwandlung der Welt geht. Eigentlich gibt es eine | |
| wunderbare Parole von Heraklit, die François Rabelais in der Renaissance | |
| wieder aufgenommen hat: „Kinder wollen nicht wie Fässer gefüllt, sondern | |
| wie Flammen entzündet werden.“ | |
| Wie können Mütter und Väter das bei einem Info-Tag feststellen? Damit sind | |
| sie doch überfordert. | |
| Eltern müssen sich klar machen, was der Schulwechsel für ihr Kind bedeutet. | |
| Das ist eine Mindestanforderung. Es ist ein guter Anlass darüber | |
| nachzudenken, was für eine Umgebung schaffe ich für mein Kind? Sie sollten | |
| auf ihr Gefühl achten, auf den berühmten ersten Eindruck der ersten 30 | |
| Sekunden. Ist das alles klinisch, steht da, wenn es hochkommt, ein Kakus | |
| auf dem Tisch. An vielen Schulen herrscht immer noch ein stiller | |
| Bürgerkrieg. | |
| Was meinen Sie mit „Bürgerkrieg“? | |
| Dass eine Tradition fortgeführt wird, in der Lehrer die Kinder nicht | |
| willkommen heißen, sondern den Kindern mit der Haltung begegnen: Auf dich | |
| hab ich grad noch gewartet. Das ist der alte deutsche Bildungskrieg. An | |
| englischen oder amerikanischen Schulen wird man das nicht finden. So haben | |
| die meisten Eltern zwei Seelen in ihrer Brust. Sie haben Schule eher | |
| unglücklich erfahren und wollen nicht, dass ihr Kind das gleiche | |
| durchleidet. Auf der anderen Seite sagen sie auch: mein Kind soll gut | |
| durchkommen. Aber vor allem haben sie Angst, aus ihren Kindern könnte | |
| nichts werden. Dann glauben sie im Zweifelsfall, geschadet hat es uns ja | |
| auch nicht. | |
| Das klingt schwierig. Sind Eltern dann nicht völlig hilflos? | |
| Nein. Eltern sind die unterschätzten Akteure in der Bildung. Nicht nur, | |
| dass nach manchen Studien das, was sie für ihre Kinder bewirken, stärker | |
| durchschlägt als die Schule. Sie sind inzwischen der stärkste | |
| bildungspolitische Akteur. Sie können sich mit anderen Eltern besprechen | |
| und dann die Schulen wählen, die institutionellen Eigensinn bewahren. | |
| Und das bedeutet? | |
| Sie können eine Schule suchen, in der das Hauptfach nicht Durchkommen | |
| heißt, sondern Kultur. Solche gibt es ja – wenn auch zu wenige. Natürlich | |
| werden damit die Probleme unseres zuweilen perversen Schulsystems nicht | |
| gelöst. Aber von Eltern könnte ein anderer Sog ausgehen als ihrerseits nur | |
| aufs Irgendwie-Durchkommen zu setzen und damit die Abwärtsspirale einer | |
| Schule, in der am Ende den meisten Schülern alles egal geworden ist, noch | |
| zu unterstützen. | |
| Am Ende wollen dann alle auf die eine tolle Reformschule. Ist es nicht | |
| grundsätzlich falsch, wenn Eltern die beste Schule für ihr Kind suchen? | |
| Sollte nicht auch jede Schule um die Ecke gut genug sein? | |
| Es wär besser, wenn wir ein System hätten, in der jede Schule „good enough�… | |
| ist, wie die Engländer sagen. Das ist etwas, was man in Finnland findet | |
| oder in Schweden. Jemand wie Andreas Schleicher (Erfinder der Pisa-Studie, | |
| Anm. d. Red.) sagt, in Finnland ist jede Schule ganz gut. Dafür lässt er | |
| Daten sprechen. In Deutschland sind die Schulen aus Pisa-Sicht extrem | |
| unterschiedlich. | |
| In Finnland und Schweden wurden ja auch die Weichen anders gestellt. Dort | |
| gibt es seit den 70er-Jahren die Gemeinschaftsschule. | |
| Das stimmt. In Deutschland wurde diese Chance verpasst. Mit dem | |
| Elternwahlrecht haben sie dieses hoch merkwürdige deutsche gegliederte | |
| Schulsystem noch mal pervertiert. Die ehemalige Eliteschule, das Gymnasium, | |
| ist zur Schule der Mehrheit geworden. Es ist quasi die Gesamtschule für die | |
| bessere Hälfte, die bald auf zwei Drittel anwachsen könnte. Diese Grenze | |
| ist in manchen Quartieren längst schon überschritten. Und die | |
| Gemeinschaftsschule, die überall auf der Welt die Regel ist, droht die | |
| Restschule zu werden für die, die es aufs Gymnasium nicht schaffen. | |
| Und zugleich sollen Eltern immer wieder losziehen und für ihr Kind die | |
| beste Schule suchen, die ihr Kind optimal individuell fördert. Ist das | |
| nicht ein Dilemma? | |
| Es ist ein Dilemma. Aber Eltern sollten sich nicht schuldig fühlen. Sie | |
| müssen sich diese Gedanken machen. | |
| Besteht hier nicht ein Optimierungsdruck? Motto: Eltern, macht das Beste | |
| aus eurem Kind! | |
| Es kommt darauf an, was ich unter fördern verstehe. Es ist doch richtig zu | |
| gucken, was bringt ein einzelner Mensch mit, was ist seine Passion. | |
| Ein Studienberater sagte jüngst bei einem Vortrag vor Eltern, die Kinder | |
| seien ja heute alle so breit musisch und künstlerisch gefördert. Manches | |
| sollte besser Hobby bleiben. Wird die elterliche Mühe nicht gewürdigt? | |
| Auch auf die Eltern wird Marktdruck ausgeübt. Die Angst der Eltern, dass | |
| aus ihren Kindern nichts wird, ist gestiegen. Aus der Vogelperspektive | |
| gesehen, wird der Gesellschaft Produktivität entzogen, weil die Menschen in | |
| dem, was ihnen wichtig ist, nicht besser werden, sondern danach vorgehen, | |
| was muss ich machen, um durchzukommen. Das geht so weit das Studierende | |
| einem Professor sagten, reden Sie nicht lange, sagen Sie gleich, was Sie | |
| prüfen. Das lernen wir. | |
| Es gibt auch Schulleiter die klagen: „Früher kamen die Kinder einfach so. | |
| Heute müssen wir PR machen.“ | |
| Ausweichen in PR ist eine schwache Lösung. Geringe Anmeldezahlen sind auch | |
| eine Chance dafür, dass Schulen sich verändern. Zum Beispiel wenn die | |
| Schule sagt, wir verabschieden uns von dem, was ich als „Bulimie-Lernen“ | |
| bezeichne. Der Hirnforscher Gerhard Roth hat festgestellt, dass die meisten | |
| fünf Jahre nach der Schule das meiste dort Gelernte vergessen haben. | |
| Schulen könnten sagen: Wir haben nicht 14 Fächer in der 9. Klasse und | |
| konzentrieren uns nicht darauf, den ganzen Stoff durchzunehmen. | |
| Sondern? | |
| Sondern wir sorgen dafür, dass etwas hängen bleibt und prüfen, was die | |
| Schüler ein Vierteljahr später noch wissen. | |
| Wie macht eine Schule das? | |
| Indem sie keine nachgeordnete Behörde mehr ist, die bloß den Lehrplan | |
| erfüllt. Endlich Abschied von der Lehrplanwirtschaft nehmen. Ich erinnere | |
| nur daran: In Finnland begann die Bildungserneuerung damit, dass die | |
| dicken, mehrbändigen Lehrpläne, die niemand las, durch eine Broschüre | |
| ersetzt wurde, die heute alle kennen. | |
| Sie beobachten und kommentieren seit vielen Jahren die Bildungslandschaft. | |
| Hat sich Schule schon verändert? | |
| Ja und nein. Es gibt immer mehr, die aus ihrem Unterricht etwas machen. Auf | |
| der anderen Seite gibt es heute mehr Angst als früher. Und am Ende steht | |
| auf jeden Fall das Abitur. Es nicht zu machen, ist ein Makel. Das ist fatal | |
| für die Minderheit, die kein Abitur hat. Der Druck lastet aber auch auf den | |
| 60 Prozent, die es schaffen. Man muss eine Eins vor dem Komma haben, um | |
| Psychologie zu studieren. | |
| Aber haben nicht auch normale Staatsschulen neue Lernformen eingeführt? | |
| Das stimmt, aber teilweise wird dies auch pervertiert. Wer zum Beispiel | |
| Kompetenzen in Kompetenzrastern erfasst, ist schon bald wieder beim | |
| Lückentest. Teilweise wurden die Begriffe ausgetauscht, aber nicht die | |
| Haltung geändert. Es geht darum, ob Schulen Gasthäuser des Lernens sind – | |
| oder Exerzierplätze. Dass Schüler nicht schon in der 6. Klasse sagen, | |
| hoffentlich hört das bald auf. Da fordern Mütter G 9 für ihre Kinder, und | |
| die Kinder sagen: Um Gottes Willen, nicht noch ein Jahr länger. | |
| Was kann Politik besser machen? | |
| Den Druck raus nehmen, nicht bloß auf äußere Performance starren. Wenn es | |
| zum Beispiel heißt, dass Hamburgs Stadtteilschüler teils schwach in Mathe | |
| sind, dann wird jetzt darauf geachtet, dass die Testergebnisse besser sind. | |
| Nicht darauf, dass sie besser Mathe können und dies auch nach fünf Jahren | |
| noch wissen. Aber darauf kommt es bei guter Schule an. | |
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| 5 Dec 2014 | |
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| Kaija Kutter | |
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