# taz.de -- Schulleiter über sein Leben als Punk: „Alle Punks wollen auffall… | |
> Der Lübecker Schulleiter Matthias Isecke-Vogelsang trägt Nietenarmband | |
> und Iro. Ein Gespräch über Pädagogik und Punk | |
Bild: Pädagogik ist Rebellion – jedenfalls im Fall von Matthias Isecke-Vogel… | |
taz: Herr Isecke-Vogelsang, Sie waren acht Jahre alt, als Ihre Eltern mit | |
Ihnen aus Ost- nach Westdeutschland geflohen sind. Was hat das mit Ihnen | |
gemacht? | |
Matthias Isecke-Vogelsang: Ich kann mich sehr gut einfühlen in Menschen, | |
die auf der Flucht waren. Ich weiß, wie sich Vorbehalte, Ausgrenzungen, | |
aber auch die Neugier der anderen Kinder anfühlen. Ich weiß, wie schwierig | |
es sein kann, sich in ein neues System hineinzufinden. | |
Hat das Ihre Entscheidung beeinflusst, Lehrer zu werden? | |
Nein, überhaupt nicht. Ich war ein schwieriges Kind, ich war der | |
Klassenkasper und habe oft geschwänzt. In meinen ersten zehn Schuljahren | |
habe ich viel Ungerechtigkeit durch Lehrer erfahren. | |
Zum Beispiel? | |
Ich habe Schläge bekommen, bin an die Wand gestellt und mit Schlüsselbünden | |
beworfen worden, heute wäre das unvorstellbar. Deshalb gehe ich auf die | |
Barrikaden, wenn ich merke, dass mit mir oder anderen ungerecht umgegangen | |
wird. Da bin ich voll und ganz Punk. | |
Wenn man in der Schule misshandelt wird, warum geht man dann freiwillig | |
zurück an die Schule und wird Pauker? | |
Ich wollte wissen, ob Unterrichten auch mit anderen Methoden geht. Dazu | |
kam, dass wir in Essen in einem Arbeiterbezirk wohnten, geprägt von Zechen | |
und Montanindustrie. Da hatte ich mit vielen Kindern zu tun, die auch nicht | |
auf der Sonnenseite des Lebens standen. Ich war in der kirchlichen | |
Jugendarbeit, dort habe ich beschlossen, Pädagogik zu studieren. | |
So richtig revolutionär hört sich das jetzt nicht an. | |
Das sehe ich anders. Dahinter stand ja die Entscheidung, es pädagogisch | |
besser zu machen. Und wir waren eine sehr progressive Jugendgruppe. Wir | |
waren beeinflusst von den 68ern, wir haben Straßenbahnen boykottiert und | |
blockiert, weil sie zahlungspflichtig sind, haben bei Demos mitgemacht in | |
der Nachfolge Rudi Dutschkes. | |
Politische Arbeit also. Ist Punk politisch? | |
In jedem Fall! Die Auffassung, ich will mich nicht verbiegen, ich will | |
nicht zu allem Ja und Amen sagen und gebe mich nicht zufrieden mit den | |
Verhältnissen, wie ich sie vorfinde – das ist zutiefst politisch. | |
Haben Sie auch Schüler, die so sind wie Sie damals waren? | |
Gerade die Schwierigen, nicht Angepassten interessieren mich am meisten. In | |
vielen Situationen konnte ich Jugendlichen sagen: Ich kann genau | |
nachvollziehen, was du denkst oder fühlst, weil ich in der gleichen | |
Situation war wie du, und trotzdem muss ich dir dazu etwas aus meiner | |
heutigen Sicht sagen. | |
Stichwort Unangepasstheit: Ist es mit Ihrer Sozialisation und Geschichte | |
nicht erstaunlich, dass Sie Punk geworden sind? DDR-Bürger haben ja früh | |
gelernt, nicht aufzufallen. | |
Ich war ja erst acht Jahre alt, als wir die DDR verlassen haben. | |
Waren Ihre Eltern nicht so geprägt? | |
Wären sie völlig angepasst gewesen, wären sie ja dort geblieben. Wobei ihre | |
Gründe nicht nur politisch waren. Mein Vater war Arzt, da gab es starke | |
wirtschaftliche Interessen. Wenn heute behauptet wird, Flüchtlinge wollen | |
es „nur“ besser haben, dann regt mich das auf. Fluchtursachen lassen sich | |
nicht festmachen an einem einzelnen Motiv. | |
Wie war Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern? | |
Ich bin Punk geworden, um gegen meine Eltern zu revoltieren. Später habe | |
ich dann aber festgestellt, dass ich in manchen Dingen meinen Eltern doch | |
ähnlich geworden bin. | |
In welchen denn? | |
Ich habe Geschichte studiert, und mein Vater war sehr an Geschichte | |
interessiert. Nur Nationalsozialismus war bei uns ein Tabuthema. Jeden | |
Sonntag gab es den gleichen Streit. Der eine schrie: „Du alter Nazi!“, der | |
andere: „Geht doch in den Osten!“ | |
Als Ihre eigenen Kinder sich in der Pubertät abgrenzen wollten, wie haben | |
sie das gemacht? Revoltieren die Kinder von Punks, indem sie Spießer | |
werden? | |
Das war für unsere Kinder nicht ganz einfach. Jeder Jugendliche muss sich | |
von seinen Eltern abgrenzen, also sind sie keine Punks geworden. Sie laufen | |
schon angepasster rum. Was mich stolz macht ist, dass unsere Kinder | |
selbstständig und autonom denken. | |
Wie sehen Sie denn die aktuelle Elterngeneration? Glauben Sie, heutige | |
Eltern sind zu wenig konsequent? | |
Ich sehe eine andere Problematik. Ich glaube, dass sich unsere | |
Gesellschaft, und damit auch die Eltern, immer weiter | |
auseinanderentwickelt. Die sozioökonomische Schere geht auf, der | |
Unterschied zwischen arm und reich ist viel größer geworden als im Jahr | |
1980, als ich angefangen habe zu unterrichten. Das spiegelt sich in der | |
Erziehung, von überbehüteten Kindern bis hin zu Kindern, deren Eltern sich | |
um gar nichts kümmern. | |
An einer Lübecker Grundschule hängt im Eingang die Werbung eines Sponsors. | |
Kapitalismuskritik ist ja ein klassisches Punkthema, also: Wäre an Ihrer | |
Schule so etwas denkbar? | |
Das würde ich sehr, sehr kritisch sehen. Umgekehrt würde hier ohne | |
Stiftungsgelder vieles nicht laufen. Wir haben keine reiche Elternschaft | |
und sind leider darauf angewiesen. Wenn es nach mir ginge, müsste Bildung | |
komplett öffentlich finanziert werden. Bei den Bildungsausgaben liegen wir | |
gemessen am Bruttoinlandsprodukt gleichauf mit mittelamerikanischen Staaten | |
– das ist skandalös! | |
Das beklagen andere Schulleiter auch. Ich sehe nicht genau, inwiefern Ihre | |
Schulpolitik Punk ist. | |
Stimmt. Meine Aufgabe als Punk, oder das Rebellische, sehe ich vor allem im | |
pädagogischen Bereich. Was kann ich tun, um Kinder in ihrer Entwicklung zu | |
unterstützen? Als Schulleiter unterscheide ich mich nicht so sehr von | |
Punks. Ich bin der, der vor dem Rathaus sitzt mit der Spendendose und sich | |
freut, wenn das Eurostück klingelt. | |
In Foren werfen Punks Ihnen vor, dass Sie auffallen wollen, aber kein | |
echter Punk sind. Was ist denn ein echter Punk? | |
Dass Punks auffallen wollen, kann kein Vorwurf sein. Alle Punks wollen | |
auffallen. Für mich bedeutet es, dass ich nicht sein will wie alle anderen. | |
Ich will eine Veränderung der Bedingungen. Das ist sehr punk. Es gibt auch | |
eine Menge Punks, die toll finden, was ich mache. | |
Sie könnten Ihren Kritikern auch entgegnen: „Nachdem ich Schulleiter war, | |
wird es schwieriger sein, politische Berufsverbote durchzusetzen.“ | |
Ich hoffe, dass ich durch mein Beispiel dazu beigetragen habe, dass die | |
Gesellschaft toleranter wird. | |
Jetzt, da Sie in Rente gehen, wird Ihre Schule vielleicht weniger bekannt | |
und populär sein. | |
Ich hoffe nicht. Die Schule hat sich stark entwickelt und zu Recht den Ruf | |
bekommen, dass sie sich besonders um Kinder mit Förderbedarf kümmert. Wir | |
haben einen Migrationsanteil von 50 und einen Integrationsanteil von zwölf | |
Prozent, das ist weit über dem Durchschnitt. Trotzdem erzielen wir sehr | |
gute Ergebnisse. Ich denke mal, dass diese tolle pädagogische Arbeit | |
weitergemacht wird, dass sie den Bekanntheitsgrad der Schule ausmacht und | |
nicht Matthias Isecke-Vogelsang. | |
6 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Friederike Grabitz | |
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