| # taz.de -- Bildung und Ideale: Gymnasium einfach abschaffen? | |
| > Es ist eine Institution mit gutem Ruf. Doch viele Eltern wenden sich von | |
| > ihr ab. Wegen Lernstress und Leistungsdünkel. | |
| Bild: Auch an einer Gesamtschule kann man ganz gut Abitur machen – wie hier i… | |
| Berlin beispielsweise. „Gymnasien in ihrer Existenz bedroht“, fürchtet da | |
| die Berliner Zeitung in diesen Tagen. 57 Prozent der Kinder wollen in der | |
| Hauptstadt mittlerweile an eine Sekundarschule, so werden Gesamtschulen | |
| dort genannt. Nur 43 Prozent dagegen melden sich noch für das Gymnasium an. | |
| In einigen Schulen bleiben die Klassen leer. Zwei konnten deshalb gar keine | |
| neuen siebten Klassen aufmachen. | |
| Ähnlich schwierig scheint die Lage in Bayern, wo einem Gymnasium am | |
| Tegernsee die Schüler weglaufen, einerseits an ein anderes Gymnasium. Und: | |
| in eine nahegelegene Realschule. | |
| Dazu kommt die Kritik an der Einpaukerei, der frühen Auslese, der sozialen | |
| Ungerechtigkeit und dem Turbo-Abitur. Eine Institution steht unter Druck. | |
| Was dazu führt, dass selbst der bayrische Bildungsminister Spaenle | |
| mittlerweile fordert, man müsse einen „ergebnisoffenen Prozess zur | |
| Weiterentwicklung des Gymnasiums“ anstoßen. Für das konservative Bayern, | |
| das seine anspruchsvollen Gymnasien gerne wie eine Monstranz vor sich | |
| herträgt, ist das eine kleine Revolution. Denn sogar in Bayern schicken | |
| Eltern ihre Kinder ganz bewusst nicht ans Gymnasium – auch wenn sie die | |
| Noten dazu hätten. | |
| In der Titelgeschichte „Die Mutprobe“ der [1][taz.am wochenende vom 17./18. | |
| Mai 2014] treffen die Autorinnnen Anna Lehmann und Kaija Kutter drei Kinder | |
| und ihre Eltern, die sich trotz Gymnasialempfehlung für eine Gesamtschule | |
| entschieden haben. Für die Eltern, schreiben die Autorinnen, sei die Wahl | |
| der richtigen Schule auch ein Statement. Es geht nicht nur um die Zukunft | |
| des Nachwuches, sondern auch um grundlegende Fragen: „Wie sieht man sein | |
| Kind? Wie betrachtet man diese Gesellschaft?“. „Das Gymnasium zu meiden, | |
| heißt nicht, gegen Leistung zu sein“, stellen Lehmann und Kutter fest, | |
| „aber gegen das, was der Publizist Reinhard Kahl Bulimie-Lernen gennant | |
| hat: Lernstoff reinfressen, auskotzen, vergessen. Und gegen das | |
| Konkurrenzdenken.“ | |
| ## Der Nimbus des Gymnasiasten | |
| Schon im vergangenen Jahr hat der Bestseller-Philosoph Richard David Precht | |
| die Abschaffung des Gymnasiums gefordert. Hat die altehrwürdige Institution | |
| des deutschen Gymnasiums langsam ausgedient? | |
| Das Paradoxe ist: Trotz all der Kritik gehen heute fast 40 Prozent der | |
| Schüler in Deutschland aufs Gymnasium. Eltern versprechen sich von diesem | |
| Schultyp offenbar noch immer die größte Sicherheit. Es geht darum, den | |
| Kindern die besten Chancen zu sichern, den Nimbus des Gymnasiasten zu | |
| verpassen und für die Mittelschicht im Zweifel auch der ewigen Angst vor | |
| dem Abstieg zu begegnen. | |
| Und doch: In Berlin oder Schleswig-Holstein gehen mehr Schülerinnen und | |
| Schüler an Gesamtschulen als an Gymnasien. Bestimmte Gesamtschulen der | |
| Hauptstadt weisen schon jetzt bessere Notendurchschnitte als Gymnasien auf. | |
| Auch die Debatte um G8 – die Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht | |
| Jahre – bringt den Gesamtschulen wohl neuen Zulauf. Seit der Einführung | |
| bemängeln viele Eltern und Lehrer, dass die Schüler zu sehr unter Druck | |
| sind und ihnen zu wenig freie Zeit für Spielen, Sport und Musizieren | |
| bleibt. Weil die Schüler an den Gesamtschulen auch Abitur machen können, | |
| dafür aber ein Jahr mehr Zeit haben, sehen viele Eltern hierin nun eine | |
| echte Alternative zu G8. | |
| ## Wettbewerb und Leistungsdenken | |
| Da ist zum einen die Überzeugung, dass nicht schon Kinder und Jugendliche | |
| Wettbewerb und Leistungsdenken ausgesetzt werden müssen. Und zum anderen | |
| eine bewusste Entscheidung gegen ein Schulsystem, das soziale Missstände | |
| zementiert. Denn in kaum einem anderen Land in Europa ist der Zusammenhang | |
| zwischen sozialer Herkunft und schulischen Kompetenzen so stark wie | |
| Deutschland. Nach nur vier Jahren, mit gerade einmal zehn Jahren, werden | |
| hier Weichen gestellt, die über einen Großteil des weiteren Lebens eines | |
| Kindes entscheiden. | |
| Dabei sind es fast immer die Kinder aus den oberen Schichten, die am Ende | |
| aus Gymnasium kommen. Zum Teil auch dann, wenn sie nach den bestehenden | |
| Kategorien eigentlich eher an eine Real- oder Hauptschule gehörten. Man | |
| könnte sagen: Die Oberschicht schleift ihre Kinder mit, während sozial | |
| schwächere Kinder und solche mit Migrationshintergrund an die schlechteren | |
| Schulen abgeschoben werden. | |
| ## Der "feine soziale Unterschied" | |
| Obwohl das alles seit Jahren bekannt ist, obwohl Bildungsforscher immer | |
| wieder Konsequenzen fordern und obwohl die Zahl der Eltern wächst, die | |
| ihren Kindern das Gymnasium nicht zumuten wollen, halten 89 Prozent der | |
| Deutschen laut einer Umfrage von 2009 an der Institution fest und wollen es | |
| behalten. | |
| Schließlich gibt es da auch noch immer das humboldtsche Bildungsideal von | |
| der Schule, die den ganzheitlichen Gelehrten schafft und das Lernen und die | |
| Reflexion lehrt. | |
| Halten auch deshalb alle am guten alten Gymnasium fest? | |
| Es gehe, findet der Bildungsforscher Klaus Klemm im Interview, vor allem | |
| „um den feinen sozialen Unterschied“. „Eine Erwartung der Eltern ist | |
| sicherlich“, sagt Klemm der taz.am wochenende, „dass die Kinder neben | |
| fachlichen Kompetenzen eine Art Etikett bekommen: erfolgreicher Gymnasiast. | |
| Wenn ich weiß, wie ich in ein Bewerbungsgespräch reingehe und gekonnt | |
| Smalltalk mache, dann habe ich einen Vorteil.“ | |
| Wie sehen Sie das? Muss das Gymnasium abgeschafft werden? Oder schafft es | |
| sich langfristig selbst ab? | |
| Diskutieren Sie mit! | |
| Die Titelgeschichte „Die Mutprobe“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom | |
| 17./18. Mai 2014. | |
| 16 May 2014 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Ley | |
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