# taz.de -- Demokratie in der Schule: Der Ernstfall | |
> In Mainz hält ein Max-Planck-Direktor auf dem Demokratie-Kongress einen | |
> Vortrag über soziales Kapital. Gleichzeitig bereitet der Klassenrat der | |
> 5d eine Diskussion über Heizstrahler vor. | |
Bild: Schüler der 5D in Berlin: "Ich erwarte, dass die Gäste ein sehr großes… | |
Eine demokratische Schule, eine Schule der Demokratie ist kein Luxus. | |
Demokratie in der Schule ist der Ernstfall, und sie muss im Zentrum der | |
Aufgabe stehen, die Schule zu erfüllen hat. | |
Diese Aufgabe ist dringlicher geworden, weil der soziale Zusammenhalt der | |
demokratischen Gesellschaft gefährdet ist. Dass hier keine vorübergehenden | |
Eintrübungen grundsätzlich harmonischer Verhältnisse am Werk sind, zeigt | |
die aufgehende Schere zwischen Arm und Reich oder die massive | |
Bildungsarmut. Beides sind zugleich Hinweise auf künftige | |
Generationenkonflikte. Demokratische Kompetenzen sind also das soziale | |
Kapital der nachwachsenden Generation, auf das die Gesellschaft für ihre | |
Zukunft angewiesen ist. | |
"Ich erwarte, dass die Gäste ein sehr großes Auge auf das Klima werfen und | |
ihre Umgebung davon informieren, wie schädlich CO2 für die Umwelt ist", | |
sagt ein Schüler. Die Klasse 5d der Berliner Grundschule an der Marie ist | |
ganz schön aufgeregt. Sie will nicht mehr, dass ein Café in der Nähe das | |
Klima mit Heizpilzen verpestet. Deswegen haben sie die beiden Cafébesitzer | |
zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. In ihre Schule. Gerade diskutieren | |
sie über ihre Fragen und Ziele für die Diskussion. "Ich erwarte ein Gesetz | |
gegen die Heizstrahler und Kontrollen", sagt einer. | |
Zur Sozialisation einer Generation von Demokraten muss gerade die Schule | |
beitragen. Wenn wir eine demokratische Lebensform wollen, muss die junge | |
Generation soziale Kompetenzen für ein Leben in der Demokratie erwerben. | |
Wir müssen Demokratie lernen. Dies ist eine lebenswichtige Aufgabe der | |
Schulen. | |
Die für demokratisches Handeln eingeforderten Qualifikationen können sich | |
nach John Dewey nur auf der Grundlage "existenzieller und sozialer | |
Erfahrung" entwickeln. Die nachwachsende Generation ist für solche sozialen | |
Erfahrungen auf die Schule angewiesen. Die Schule muss folglich | |
entgegenkommende Verhältnisse für die Entwicklung dieser Qualifikationen | |
schaffen. Das ist die soziale Erfahrungsbasis einer partizipatorisch | |
angelegten demokratischen Schulkultur. Anerkennung ist dabei die | |
existenzielle Erfahrung, die den Individuen aus Partizipation erwächst. Aus | |
Anerkennung geht die Überzeugung eigener Wirksamkeit logisch wie | |
psychologisch hervor. Verantwortungsübernahme im Kontext partizipatorischen | |
Handelns folgt aus der Verbindung individueller | |
Selbstwirksamkeitsüberzeugung mit den sozialen Erfahrungen in den | |
Handlungskontexten gelebter Demokratie in der Lebenswelt Schule. | |
"Finden Sie es schlimm, dass die Welt immer mehr kaputtgeht", wäre so ein | |
Frage, die die Schüler den Cafébesitzern stellen könnten. "Warum reichen | |
Decken nicht aus? Warum können die Stühle bis zum Frühling nicht | |
hochgestellt werden? Wissen Sie, dass Sie umweltschädlich sind? Warum | |
machen Sie das?" | |
Die Schule ist verantwortliche Trägerin für Demokratielernen. Die Lehrer | |
müssen verantwortungspädagogisch wirksame Strukturen und Prozesse | |
gestalten. In der Lebenswelt der Schüler soll ein Habitus kultiviert | |
werden, grundsätzlich verantwortlich zu handeln. Das heißt, die Schule muss | |
ihren Mitgliedern Gelegenheiten dazu bieten. Die Gestaltung des Pausenhofs, | |
Streitschlichterprogramme oder der Einsatz für eine ökologisch bewusste | |
Quartiersentwicklung kann eine verantwortungsorientierte Kultur der Schule | |
mitbestimmen. Das Erlernen und Einüben verantwortlichen Handelns muss in | |
den Alltag der Schule einfließen. Diese muss entsprechend eine | |
demokratische Lebensform realisieren. Im Regelfall des hierarchisch | |
strukturierten Schulsystems erscheinen solche Lebensformen noch immer | |
(fast) utopisch. | |
Die Kinder der 5d sind keine demokratischen Grünschnäbel mehr. Sie haben | |
einen kleinen lokalen Preis gewonnen, weil sie in ihrem Müllprojekt | |
verlangt haben, dass mehr und lustigere Mülleimer im Kiez aufgestellt | |
werden. Inzwischen gehören sie den Baumpflanzern von plant-for-the-planet | |
an, die eine Million neue Bäume setzen wollen. In einer Agenda-21-Runde | |
haben sich die Kinder Änderungen ihrer eigenen Lebensweise vorgenommen - | |
und ihrer Familien. | |
Der Klassenrat repräsentiert eine auf Dauer gestellte und institutionell | |
gesicherte Form der verantwortlichen Teilhabe vor Ort, also der | |
demokratischen Mitbestimmung der Schüler in der Schule. Lernen durch | |
Engagement repräsentiert Formen der Verantwortungsübernahme der Schüler | |
über die Schule hinaus für betroffene Personen, Gruppen oder Sachverhalte | |
in der Gemeinde oder im Umfeld außerhalb der Schule. Dazu bedarf es auch | |
der Mobilisierung außerschulischer Akteure. Dies können in diesem Fall | |
neben den Eltern auch Sozialpädagogen oder Künstler sein oder auch andere | |
Akteure, die Projekte mit der Schule und ihren Akteuren unternehmen und | |
damit verantwortliche Teilhabe an der Schule dokumentieren. So machen sie | |
die Schule zu ihrer Schule - und verändern mit ihrer Teilhabe zugleich die | |
Gemeinde. | |
"Er soll uns was über unsere Rechte erzählen", murmelt eines der Kinder. | |
Denn sie werden sich den Cafébesitzern nicht allein gegenüberstellen. Es | |
soll jemand vom Greenpeace dabei sein, einer vom Bezirksamt, der Redakteur | |
einer Spandauer Lokalzeitung coacht die Kids in Interviewtechnik. "Ich | |
werde meine Fragen erst vor Ort entscheiden", sagt ein Kind. "Ich finde es | |
gut, dass es dieses Treffen überhaupt gibt", meint ein anderes. | |
Die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure an der Verantwortung für | |
die Schule kann in zwangloser Erweiterung und Vertiefung aus den | |
dargestellten Prozessen der Verantwortung in der Schule hervorgehen. Die | |
basisdemokratische Selbstregulation im Klassenrat vermittelt als | |
"Schulinnenpolitik" grundlegende Erfahrungen gemeinwohlorientierter | |
politischer Diskurse. Die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements als | |
"Schulaußenpolitik" kann eine besondere Funktion des Klassenrats sein. | |
"Ich erwarte, dass keine andere Klasse kommt, aber der Rektor", schlägt ein | |
Schüler vor. "Die Diskussion soll in der Klasse stattfinden, mit den | |
Erwachsenen, danach sollen wir zu den Läden mit den Heizstrahlern gehen." | |
Ein anderer hat diese Idee: "Wir sollten es in der Aula machen, da können | |
wir alle im Kreis sitzen. Es sollen höchstens zwei oder drei andere Klassen | |
kommen." | |
Der Klassenrat ist - zunächst - der Ansatz einer basisdemokratischen | |
Selbstregulation. Mit dem Klassenrat übernehmen die Schüler einer Klasse | |
unter Mitwirkung (nicht jedoch unter der Leitung) eines Lehrers - gleichsam | |
als Coach oder Begleiter - gemeinsam Verantwortung für das Leben der | |
Klasse. Der Klassenrat unterscheidet sich von der häufig unterbestimmten | |
Figur einer Klassenorganisation, wie es sie in manchen Schulen mit | |
Verfügungsstunde und Lehrerkontrolle gibt, vielleicht als sozialkooperative | |
Kommunikationsrunde, nicht jedoch, wie hier entworfen, als | |
Organisationszelle der Selbstbestimmung und der schulischen Mitwirkung der | |
Gruppe. | |
Die Lehrerin macht viele Ausflüge mit den Schülern in den Kiez und zu | |
Projekten. Jedes Kind soll sich eine Aufgabe im Bezirk suchen und bei einer | |
Organisation eigener Wahl mitarbeiten. Im Klassenrat sitzt die Lehrerin | |
dabei und protokolliert, was ihre Schüler sich für die Diskussion | |
vorgenommen haben. Im Fachunterricht ist sie streng. | |
Lernen durch Engagement ist der Inbegriff des handlungsorientierten | |
Erfahrungslernens in Projekten. Damit schließt dieses Verfahren an | |
Traditionen der Reformpädagogik an. Projekte fordern gemeinsames Handeln, | |
eine Einigung auf ein gemeinsam ausgehandeltes und für die Beteiligten | |
sinnvolles Ziel, gemeinsame Planungsprozesse, rationale Durchführung, | |
dokumentierte Ergebnisse, öffentliche Präsentation, also eine systematisch | |
partizipative, auch logisch und informationstechnisch gestützte Kooperation | |
aller Mitglieder der Gruppe. Handlungspraxis und Gegenstandslernen werden | |
dabei thematisch verbunden. | |
"Sie sollen auf unsere Fragen hören und uns antworten. Sie sollen wissen, | |
worum es geht und uns respektvoll behandeln", verlangt ein Kind in der | |
Runde, die den Ablauf der Diskussion festlegt. "Ein paar Kinder sollen | |
Fragen stellen, und dann diskutieren wir", meint einer. "Freiwillige Kinder | |
halten einen Vortrag darüber, wie schlecht Strahler für die Umwelt sind." | |
Im Blick auf die anfangs thematisierte systemische Krise und die | |
Notwendigkeit, die soziomoralischen Ressourcen einer solidarischen | |
Gesellschaft zu kultivieren, kommt den sozial-entrepreneurialen Aufgaben | |
des Klassenrats besonderes Gewicht zu. In kommunalen und ökologischen, in | |
sozialen und konstruktiven Projekten des Lernens durch Engagement können | |
junge Menschen lernen, sich aus eigenem Antrieb zu engagieren - auch wenn | |
ihnen daraus kein materieller Gewinn erwächst. Ein solches Einüben | |
zivilgesellschaftlich produktiver Aufgaben und Engagements ist wichtig. | |
Angesichts der Restriktionen des Arbeitsmarkts und von Prozessen der | |
Prekarisierung kann Lernen durch Engagement einen innovativen und | |
bedeutsamen Beitrag zur Bildung von Sozialkapital leisten. | |
Integrationschancen werden in einem zivilgesellschaftlich bestimmten | |
Arbeitsmarkt gestärkt. Der Erfolg auf dem regulären Arbeitsmarkt als bisher | |
einziger Weg zur Integration in die Gesellschaft wird durch einen | |
gemeinnützigen und gemeinwohlorientierten zweiten Zugang zu | |
gesellschaftlicher Arbeit ergänzt. | |
"Ist es schwer, ein Gesetz gegen Heizstrahler aufzustellen", wollen die | |
Kinder wissen. Überhaupt das Gesetz. Viele Fragen drehen sich darum, wie | |
die Politik mit Heizstrahlern umgeht. "Wie lange gibt es das Gesetz, wird | |
es kontrolliert? Wie wahrscheinlich sind regelmäßige Kontrollen? Warum gibt | |
es dagegen noch keine Gesetze?" | |
Von besonderem Interesse ist indessen die Erweiterung einer solchen | |
Aktivierungsstrategie in Richtung einer Mobilisierung des kommunalen | |
Umfelds der Schule zu bürgerschaftlichem Engagement an der Schule. Dabei | |
kann es um die Mobilisierung von Eltern zum Engagement in der Schulgemeinde | |
oder, spezifischer, um die Mobilisierung ziviler Akteure, Experten, | |
Vertreter der Wirtschaft, Sozialarbeiter, Künstler zur Mitwirkung an der | |
Schule gehen. So entsteht ein bürgerschaftliches Engagement, das die Schule | |
für die engagierten Bürger erst wirklich zu ihrer Schule macht. | |
Wolfgang Edelstein hielt den Vortrag "Ressourcen für die Demokratie" am | |
Dienstag auf dem Deutschen Kongress der Gesellschaft für | |
Erziehungswissenschaft. | |
17 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Wolfgang Edelstein | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |