| # taz.de -- Debatte Bildung: Widersprüchliche Institution Schule | |
| > Schule bietet nicht nur Raum für Bildung. In ihr können auch Interaktion | |
| > und Rebellion stattfinden. Eine Erwiderung auf Hartmut Rosa. | |
| Bild: In der Schule können Bildung und Entfremdung koexistieren. | |
| Kürzlich war Hartmut Rosa in Wien und hielt einen großartigen Vortrag. Es | |
| war ein fulminanter Abend, der mit Standing Ovations für den Soziologen | |
| endete. Warum ich das vorausschicke? Weil Hartmut Rosa letzte Woche auch | |
| einen Text in der taz [1][veröffentlicht] hat – gegen den ich ein paar | |
| Einwände habe: eine freundliche Erwiderung also. | |
| Rosa entwirft in seinem Text die Schule als einen Raum, in dem ein | |
| Weltbezug hergestellt wird. Im besten Fall entsteht dabei eine Interaktion | |
| mit der Welt, sie berührt uns, das Material – ob Geige, Basketball oder | |
| Gedicht – „antwortet“. Rosa nennt diese Antwort eine Resonanz und die | |
| Schule, dort, wo sie gelingt, einen Resonanzraum. | |
| Das ist eine schöne Vorstellung – aber ist die Schule (in dem Fall das | |
| Gymnasium) nicht vielmehr eine widersprüchliche Institution? So ist sie | |
| nicht jenseits von ihren Disziplinierungen zu denken. Gleichzeitig ist sie | |
| aber eine paradoxe Disziplinarinstitution. Denn die Schule funktioniert | |
| nicht einfach darüber, dass brave Schüler strenge Regeln befolgen. Sie | |
| funktioniert im selben Maße auch darüber, dass Schüler Regeln übertreten. | |
| Die Schule ist keine Institution, die einfach Zustimmung und Anpassung | |
| erzeugt. Sie hat vielmehr die ihr adäquaten Übertretungen mitproduziert. | |
| Denn die Schule gibt neben den Regeln, die zu befolgen sind, auch dem | |
| regelwidrigen Verhalten einen Rahmen vor, indem sie zwischen möglichen und | |
| unmöglichen Übertretungen unterscheidet – also zwischen jenen, für die man | |
| bestraft wird (wenn man erwischt wird), und jenen, die gar nicht mehr | |
| gehen. | |
| Schule ist ein Feld, das auch regelwidriges Verhalten „ermöglicht“. Sie ist | |
| eine Disziplinarinstitution, zu der regelwidriges Verhalten dazugehört! Ja, | |
| mehr noch: Sie fördert die Schüler auch dadurch, dass sie Gegenpositionen | |
| „hervorruft“. | |
| Wenn Rosa schreibt: „Ob uns etwa Musik etwas zu sagen hat […] entscheidet | |
| sich an dem, was wir im Musikunterricht, im Chor, im Geigenunterricht […] | |
| erfahren“ – dann muss man dem entgegenhalten: Resonanz, wenn man es so | |
| nennen möchte, entsteht nicht nur durch, sie entsteht auch ganz wesentlich | |
| gegen die Schule, gegen die Autorität. | |
| Für Rosa wird Schule dort, wo sie Kinder nicht anspricht, dort, wo keine | |
| Resonanz entsteht, zu einer „Entfremdungszone“. Aber solche Ablehnung ist | |
| nicht nur, nicht ausschließlich Entfremdung und Gleichgültigkeit. Ablehnung | |
| kann auch produktive Rebellion sein. Mit dem Begriff der Resonanz lässt | |
| sich diese Qualität des Widerstands nicht fassen. Er verhindert, | |
| Widerstand, Eigensinn als vollwertigen Teil des – gelungenen – | |
| Bildungsromans zu verstehen. | |
| ## Keine Null-Bock-Mentalität | |
| Wobei man dabei die soziale Unterscheidung, wie Rosa anmerkt, nicht außer | |
| Acht lassen darf. Für Rosa verläuft diese aber zwischen bildungsnahem | |
| „Interesse“ an der Welt und bildungsferner „Null-Bock-Mentalität“. Abe… | |
| die schichtspezifische Differenzierung tatsächlich so zu fassen? Lässt sich | |
| der soziale Unterschied nicht viel eher am unterschiedlichen Umgang mit dem | |
| Wissen festmachen? | |
| Auf der einen Seite steht ein Herrschaftswissen, das Einübung in die | |
| Aneignung der Welt ist – Aneignung, die sich auch durch Ablehnung oder | |
| durch Eigensinn artikulieren kann. Und auf der anderen sozialen Seite steht | |
| ein Angeeignet-Werden, eine Einübung in konformes Verhalten. | |
| Man kann das mit Rosa „Entfremdung“ nennen. Aber die Differenz ist nicht | |
| jene zwischen Resonanz und Ablehnung, zwischen Interesse und null Bock. Sie | |
| liegt zwischen Herrschaftswissen, das es sich erlauben kann, von der reinen | |
| Regelerfüllung abzusehen, und der anderen Seite, wo es keine Freiräume für | |
| Ablehnung gibt. | |
| Popkultur war und ist der letzte Versuch, den Weltbezug der Übertretung | |
| jenseits der Klassenzugehörigkeit anzusiedeln. Rebellion hat dabei | |
| Gymnasiasten und Lehrlinge gleichermaßen erfasst. Heute sind Übertretung | |
| und Rebellion eindeutig Herrschaftswissen. Man muss sie sich leisten | |
| können. | |
| 26 Nov 2014 | |
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| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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