# taz.de -- Inklusion in Deutschland: Ausbruch aus der Sonderschule | |
> Etwa drei Viertel der Sonderschüler verlassen die Schule ohne | |
> qualifizierenden Abschluss. Warum schulische Inklusion in Deutschland oft | |
> so schwerfällt. | |
Bild: Inklusion gelingt, wenn auch Sonderpädagogen lernen, ihre Schützlinge l… | |
Im Jahr 2008 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) | |
ratifiziert und sich verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu | |
schaffen. Die Konvention verbietet Sonderschulen nicht explizit. Aber das | |
systematische Aussondern von Schülern mit Behinderungen aus dem | |
Regelschulsystem, wie es in Deutschland praktiziert wird, verstößt gegen | |
die Konvention. | |
Die vermeintlichen Vorteile der Sonderbeschulung werden zudem durch Akteure | |
aus Wissenschaft, Politik und Praxis sowie internationalen Organisationen | |
seit Jahrzehnten in Frage gestellt. Denn vor allem Schüler aus | |
bildungsbenachteiligten Gruppen werden an Sonderschulen überwiesen: Kinder | |
und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischen Status und | |
insbesondere jene mit Migrationshintergrund sind dort deutlich | |
überrepräsentiert. | |
Die Sonderschule hebt ihre Bildungsbenachteiligung nicht auf, sondern kann | |
sie sogar noch verstärken: Etwa drei Viertel der Sonderschüler verlassen | |
die Schule ohne qualifizierenden Abschluss. Absolventen haben kaum Chancen | |
auf einen erfolgreichen Übergang in Berufsausbildung und Arbeitsmarkt; | |
viele kämpfen jahrelang mit dem Stigma der „Anormalität“. Die | |
Sonderschulüberweisung hat damit oft negative Folgen für den weiteren | |
Lebensverlauf. | |
## Der Auslesegedanke ist gesellschaftlich verwurzelt | |
War Inklusion lange Zeit ein bildungspolitisches Nischenthema, ist sie | |
heute in allen Bundesländern auf der schulpolitischen Agenda. Auf den | |
ersten Blick mit Erfolg: Der Anteil von Schülern mit sonderpädagogischem | |
Förderbedarf, die an Regelschulen integrativ unterrichtet werden, ist laut | |
Schulstatistik seit 2008 im Bundesdurchschnitt von 18 auf 25 Prozent | |
gestiegen. | |
Aber der Anstieg kommt vor allem dadurch zustande, dass mehr Regelschüler | |
als förderbedürftig eingestuft werden, und nicht durch einen Rückgang der | |
Sonderbeschulung, wie ihn die UN-BRK fordert. Der Anteil der Schülerschaft | |
mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist seit 2008 im Bundesdurchschnitt um | |
10 Prozent gestiegen; die Sonderschulquote liegt fast unverändert bei 4,8 | |
Prozent. | |
Diese Entwicklung verdeutlicht, mit welchen Schwierigkeiten die Umsetzung | |
der Inklusion in Deutschland verbunden ist: Das Sonderschulwesen ist | |
gesellschaftlich tief verwurzelt und hat institutionelle Beharrungskräfte | |
entwickelt, die sich nicht einfach verflüchtigen, weil sich die Rechtslage | |
verändert hat. Worin genau diese Beharrungskräfte bestehen, haben wir | |
erforscht. Es geht im Wesentlichen um vier Punkte. | |
Erstens sind Vorstellungen über den „richtigen“ Umgang mit | |
förderbedürftigen Schülern kulturell tief verankert. In weiten Teilen der | |
Gesellschaft und den pädagogischen Professionen hat sich die Überzeugung | |
etabliert, dass Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf nur im | |
„Schonraum“ der Sonderschule angemessen gefördert werden können. Die | |
Trennung der Schüler entspricht auch der Grundidee des gegliederten | |
Schulsystems, in homogenen Gruppen werde besser gelernt als in heterogenen | |
Gruppen. Beide Annahmen sind empirisch keineswegs belegt. | |
## Prinzip der Leistungsauslese | |
Im Gegenteil, fast alle wissenschaftlichen Befunde zeigen: Schüler mit | |
sonderpädagogischem Förderbedarf profitieren vom gemeinsamen Lernen, der | |
Lernerfolg der anderen Schüler leidet darunter nicht. | |
Zweitens funktioniert das gegliederte Schulsystem nach dem Prinzip der | |
Leistungsauslese. Während die Regelschulen in diesem System Schüler, die | |
die von ihnen geforderten Leistungen nicht erbringen können, auf niedrigere | |
Schulformen „abschulen“, gibt es diese Möglichkeit an der Sonderschule | |
nicht. Sie ist de facto das unterste Glied des Schulsystems und übernimmt | |
die Aufgabe, Schüler zu fördern, die nicht den gesellschaftlichen | |
Vorstellungen von Normalität und Bildungsfähigkeit entsprechen, an denen | |
die Regelschulen ausgerichtet sind. | |
## Ein Kernkonflikt deutscher Schulpolitik | |
Im Rahmen inklusiver Bildung ist nun gefordert, dass auch diese Schüler an | |
Regelschulen zu unterrichten sind. Da Regelschulen aber nicht darauf | |
eingestellt sind, Schüler kompensatorisch zu fördern, stellt die | |
vollständige Abschaffung von Sonderschulen die Funktionsweise des | |
gegliederten Schulsystems insgesamt infrage. Inklusion berührt also | |
unweigerlich die Schulstrukturdebatte und damit einen Kernkonflikt | |
deutscher Schulpolitik. | |
Drittens führen die Veränderungen, die eine konsequente Inklusion mit sich | |
bringen würden, bei vielen Vertretern der sonderpädagogischen Profession zu | |
Unsicherheiten und Ängsten, was Arbeitsbedingungen und Besoldung angeht: | |
Sonderpädagogen haben im bestehenden System hohes berufliches Prestige. | |
Ihre Besoldung entspricht der von Gymnasiallehrern. Sie arbeiten an Schulen | |
mit vergleichsweise kleinen Klassen. Folglich hat die Profession ein | |
Interesse daran, Sonderschulen aufrechtzuerhalten. Da sie die Verantwortung | |
dafür trägt, Behinderungen zu diagnostizieren und Schüler auf Sonderschulen | |
zu überweisen, kann sie schon immer ihre eigene Schülerschaft rekrutieren. | |
Ihre Vorstellungen vom richtigen Umgang mit förderbedürftigen Schülern | |
wurden von der Politik lange weitgehend unhinterfragt übernommen, da der | |
Profession quasi natur gemäß die größte Expertise für förderbedürftige | |
Schüler zugesprochen wird. | |
Viertens sind Veränderungen etablierter Bildungssysteme aufwendig. Im Zuge | |
der Sonderschulexpansion ist eine Infrastruktur von weit mehr als 3.000 | |
Sonderschulen entstanden, die für inklusive Bildung nur bedingt nutzbar | |
ist. Sonderpädagogische Förderung stützt sich auf Gesetze und unzählige | |
Verordnungen, langfristig eingeübte Verwaltungsroutinen und pädagogische | |
Praktiken. Diese wiederum sind mit einer hoch spezialisierten | |
Lehrerausbildung verknüpft, die kaum Kompetenzen für Unterricht in | |
inklusiven Settings vermittelt. All das muss für die Inklusion an neue | |
Gegebenheiten angepasst werden – und das erfordert Ressourcen. | |
Diese kurzfristig anfallenden Transformationskosten nimmt die Politik | |
deutlich wahr. Die langfristigen gesamtgesellschaftlichen Kosten eines | |
defizitären Sonderschulwesens, etwa für die sozialen Sicherungssysteme, | |
geraten dagegen aus dem Blick. | |
## Was Schleswig-Holstein richtig macht | |
Aus diesen Gründen kommt die inklusive Schulentwicklung vielerorts nur | |
schleppend voran. Doch die Beharrungskräfte der Sonderschule können durch | |
langfristig angelegte schulpolitische Strategien erheblich gemindert | |
werden. Das beweist Schleswig-Holstein, eines der wenigen Länder, in denen | |
die Sonderbeschulungsquote deutlich gesunken ist. Was lässt sich von | |
Schleswig-Holstein lernen? | |
Das Land hat bei den pädagogischen Professionen und in der Öffentlichkeit | |
Akzeptanz für die Idee der Inklusion geschaffen. Frühzeitig wurden in die | |
sonderpädagogische ebenso wie die allgemeine Lehrerausbildung Inhalte | |
aufgenommen, die für den inklusiven Unterricht qualifizieren. Zudem wurde | |
mit der „Beratungsstelle Inklusive Schule“ eine Organisation geschaffen, | |
die Schulen, aber auch Eltern berät und Lehrkräfte weiterbildet. | |
Die neue Gemeinschaftsschule hat die Umsetzung der Inklusion in | |
Schleswig-Holstein wesentlich erleichtert. Da sie auf Leistungsauslese | |
zugunsten von Binnendifferenzierung verzichtet und damit die Heterogenität | |
von Lerngruppen explizit anerkennt, wird inklusiver Unterricht in dieser | |
Schulform strukturell erleichtert. | |
Professionspolitische Widerstände gegen Inklusion konnten minimiert werden, | |
weil ihre Rahmenbedingungen von Beginn an so gestaltet wurden, dass | |
Sonderpädagogen durch die Arbeit an Regelschulen keine Nachteile befürchten | |
müssen, etwa durch Erlasse zu Fragen der Besoldung oder zur Anrechnung von | |
Fahrzeiten zwischen Schulen. | |
## Begrenzte Kosten | |
Die Kosten der Inklusion blieben begrenzt, weil von Anfang an das Ziel | |
verfolgt wurde, die sonderpädagogische Förderung nach und nach vollständig | |
in Regelschulen zu überführen anstatt dauerhaft zwei parallele Systeme zu | |
finanzieren. Zunächst wurden alle Schüler mit Sehbehinderung an | |
Regelschulen unterrichtet und dort von Sonderpädagogen des | |
„Landesförderzentrums Sehen“ unterstützt. Aufgrund positiver Erfahrungen | |
wurde dieses Modell auf andere Förderschwerpunkte ausgeweitet. | |
Dabei war die Ausgangslage für Schleswig-Holstein relativ günstig, weil in | |
den 1970er und 1980er Jahren durch demografisch rückläufige Schülerzahlen | |
Mittel freigesetzt wurden, die als Anschubfinanzierung für erste | |
integrative Schulversuche genutzt wurden. In vielen Bundesländern sinken | |
derzeit ebenfalls die Schülerzahlen; diese „demografische Rendite“ könnte | |
für den Ausbau inklusiver Strukturen genutzt werden. | |
In Deutschland gibt es längst erfolgreiche Modelle für inklusiven | |
Unterricht, die in den letzten 30 Jahren entwickelt, erprobt und | |
wissenschaftlich evaluiert worden sind. Die flächendeckende Umsetzung der | |
Behindertenrechtskonvention darf indes nicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen. | |
Auch der Bund ist gefragt: Da Inklusion vorübergehend Mehrkosten verursacht | |
und diese für die Länder gerade in Zeiten der Schuldenbremse ein massives | |
Reformhindernis sind, dürfte ein finanzielles Engagement des Bundes – | |
ähnlich dem Ganztagsschulprogramm – die inklusive Schulentwicklung | |
beflügeln. Das aber setzt voraus, dass auch im Schulbereich wieder | |
Kooperationsmöglichkeiten zwischen Bund und Ländern gefunden werden. | |
23 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Benjamin Edelstein | |
Jonna Blanck | |
Justin Powell | |
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