| # taz.de -- Philosoph über das Bildungssystem: „Wissenschaft ist nicht das E… | |
| > Wir sind dem „Akademisierungswahn“ erlegen, sagt der Philosoph Julian | |
| > Nida-Rümelin. Er warnt davor, Abitur und Studium allein als Statussymbole | |
| > zu sehen. | |
| Bild: Nicht alle Mittelschichtskinder dürfen den Doktorhut tragen, aber ein Un… | |
| taz: Herr Nida-Rümelin, warum haben Sie sich 1975 für ein Studium | |
| entschieden? | |
| Julian Nida-Rümelin: Wenn es mir jedenfalls ums Geldverdienen gegangen | |
| wäre, dann hätte ich einen anderen Beruf gewählt als Philosophieprofessor. | |
| Wir hatten vor Kurzem ein Treffen unseres Abiturjahrgangs. Und stellten | |
| fest, dass die beiden, die das Abitur nicht geschafft haben, unterdessen am | |
| meisten verdienen. | |
| Warum wollten Sie studieren? | |
| Ich habe auch andere Dinge erwogen. Ich wollte ursprünglich, wie mein Vater | |
| und Großvater Künstler werden. Für ein Studium habe ich mich dann | |
| entschieden, weil ich glaubte, das entspricht meinen Begabungen und meinen | |
| Interessen am besten. Meine Hauptbegabung, Mathematik, habe ich gar nicht | |
| studiert. | |
| Weshalb nicht? | |
| Weil man nicht unbedingt das machen muss, was einem am leichtesten fällt, | |
| sondern das, was einen am meisten interessiert. | |
| Und der halben Million, die in diesem Jahr ihr Studium angefangen haben, | |
| sprechen Sie diese Vernunft ab? | |
| Keineswegs, aber unter den 500.000 Studienanfängern sind viele, deren | |
| Interessen und Begabungen nicht auf Wissenschaft gerichtet sind. Wir haben | |
| jetzt einige Jahrzehnte der Bildungspropaganda gehabt nach dem Motto: | |
| Jeder, der irgend kann, sollte das Abitur machen und danach studieren. Das | |
| hat zur Folge, dass die Eltern inzwischen stärker massiven Druck ausüben, | |
| dass ihren Kindern das Abitur ermöglicht wird. | |
| Und? | |
| Viele Kinder haben offensichtlich große Probleme, diesen Schulabschluss zu | |
| schaffen, und geraten am Ende auf einen Bildungsweg, der ihnen nicht liegt. | |
| Haben Sie einen Beleg aus Ihrem universitären Alltag? | |
| Die Qualität der Hausarbeiten hat sich geändert in den vergangenen Jahren. | |
| Manche Studierende kommen zu mir in die Sprechstunde und sagen: Ich habe | |
| nicht gewusst, dass Wissenschaft so eine große Rolle spielt im Studium. | |
| Wovor haben Sie wirklich Angst? Dass das universitäre Niveau sinkt? | |
| Der gegenwärtige Akademisierungstrend droht in der Tat sowohl die | |
| berufliche als auch die akademische Bildung zu beschädigen. Die berufliche, | |
| weil diese nur dann eine Zukunft hat, wenn in ihr das gesamte | |
| Begabungsspektrum vertreten ist und nicht nur die, die anderweitig | |
| gescheitert sind; und die akademische, weil sie ihren Wissenschaftsbezug | |
| verliert. | |
| Sie aber fordern, dass weniger Menschen studieren. Sie sprechen sogar vom | |
| Akademisierungswahn. | |
| Meine Kritik des Akademisierungswahns ist auch eine Kritik am akademischen | |
| Bildungsdünkel. Ich kann nicht erkennen, warum eine besondere Begabung, | |
| nämlich die der kognitiven Intelligenz, das Maß aller Dinge sein soll. | |
| Warum nicht genauso technische, handwerkliche, kaufmännische, soziale und | |
| ästhetische Kompetenzen wertgeschätzt werden. Das sollten wir ändern, und | |
| zwar schon in den allgemein bildenden Schulen. | |
| Sollten die Hochschulen nicht vielmehr noch stärker geöffnet werden für | |
| Menschen, die den üblichen Qualifikationsweg über das Abitur nicht gehen? | |
| In der Tat, die Hochschulen sollten allen, die die entsprechenden | |
| Fähigkeiten und Interessen mitbringen, offen stehen. Ich bin für ein | |
| durchlässigeres Bildungssystem, als das, das wir gegenwärtig haben, ich bin | |
| gegen Sortierung von Neunjährigen, ich habe mich in dem vorausgegangenen | |
| Buch zur Philosophie einer humanen Bildung sogar zum Erschrecken mancher | |
| gegen ein selektives Bildungssystem ausgesprochen. | |
| Was ich aber kritisiere, ist die irrige Vorstellung, dass die Erhöhung der | |
| Akademikerquote ein Beitrag zu sozialer Mobilität ist. Großbritannien etwa | |
| hat eine doppelt so hohe Akademikerquote wie Deutschland. Nun raten Sie | |
| mal, welches Land ein deutlich höheres Maß an sozialer Mobilität aufweist? | |
| Sagen Sie es uns! | |
| Natürlich ist es Deutschland. Weil man hier bislang zur Mittelschicht | |
| gehören kann, ohne studiert zu haben. Das ändert sich gerade durch das, was | |
| ich Akademisierungswahn nenne. | |
| Sie könnten ebenso gut fordern: Gleicher Lohn für alle. | |
| Das tue ich. Ich finde es schlicht erschreckend, dass eine Erzieherin in | |
| einer Krippe die Stadt München als Wohnort sich de facto nicht leisten | |
| kann. Die Vergütung des öffentlichen Dienstes ist ein Skandal. Ich kann | |
| nicht einsehen, weshalb eine Altenpflegerin mit einer fünfjährigen | |
| Ausbildung nicht genauso viel verdienen kann wie ein Akademiker. | |
| Weil sich dann niemand mehr die Altenpflege leisten kann? | |
| Unsere Gesellschaft kann sich vor allem den Pflege- und Betreuungsnotstand | |
| nicht leisten, der sich abzeichnet. | |
| Ist es nicht vielmehr so, dass das Abitur ein Kernbestand der | |
| Mittelschichtsreligion geworden ist? | |
| Das ist genau das, was ich kritisiere. Eine verfestigte Bildungsideologie, | |
| bei der man sagt, das Statussymbol meiner Schicht ist nicht mehr der Stern | |
| auf der Autohaube, sondern dass alle meine Kinder Abitur haben. Das ist | |
| eine Fehlentwicklung und geht im Übrigen an den sozialen Realitäten völlig | |
| vorbei. Absolventen der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften in | |
| Deutschland haben im Schnitt ein niedrigeres Monatseinkommen als Handwerker | |
| und Techniker. | |
| Müsste man nicht Elektriker mit Elektroingenieur vergleichen? Der verdient | |
| besser. | |
| Sie glauben, Jugendliche sind immer schon auf einen Weg festgelegt? Viele | |
| schwanken, was ihr Berufs- und Lebensweg sein soll, ob sie Schreiner oder | |
| Kunsthistoriker werden wollen. Und da geht es nicht nur um | |
| Verdienstmöglichkeiten. | |
| Das Thema des Verdienstes haben Sie ins Spiel gebracht. | |
| Weil das ein wichtiger Teil der Propaganda ist. Studiert nur, dann verdient | |
| ihr eine Million mehr im Leben. Eine gefährliche und nachweislich falsche | |
| Botschaft. | |
| Akademiker haben ja ihre Kinder, zumindest in der Bundesrepublik, schon | |
| immer überwiegend auf die Uni geschickt. | |
| Zutreffend ist, dass der Anteil von Menschen mit sogenanntem | |
| Migrationshintergrund an den Universitäten, aber auch in den Vorständen von | |
| Unternehmen viel zu niedrig ist. Da ist auch das Bildungssystem gefordert. | |
| Integration wird man aber nicht dadurch fördern, dass man das duale System | |
| der beruflichen Bildung abwrackt – im Gegenteil, das hat eine stärkere | |
| Integrationswirkung als eine Universität. | |
| So argumentieren auch Konservative: Das Bildungsniveau ist runtergegangen, | |
| die Leute sind kaum in der Lage, Proseminare zu bestehen. Eigentlich ist | |
| der Bachelor kaum mehr als ein klassisches Abitur von früher. Worauf wollen | |
| Sie hinaus? | |
| Ich denke, die verschiedenen Studiengänge an den Universitäten sollten ihre | |
| eigenen Aufnahmeprüfungen etablieren, um zu verhindern, dass Menschen, die | |
| für dieses Studium nicht das Engagement, die Interessen und die Begabungen | |
| mitbringen, diesen falschen Weg gehen. Und warum gehen die Kinder in den | |
| Gymnasien nicht in Handwerksbetriebe und schauen sich das mal an. Ein | |
| wachsender Teil will mit dem Abitur nicht unbedingt studieren. Die Folge | |
| des aktuellen Akademisierungswahns sind steigende Abbrecherquoten. 48 | |
| Prozent der Studienanfänger in den Ingenieurwissenschaften brechen | |
| unterdessen ab. | |
| Man könnte aber auch sagen: Nicht die Leute sind falsch – wenn die Hälfte | |
| es nicht schafft, machen die Universitären vieles falsch. | |
| Sicher ist das auch richtig, aber die beliebte Methode „Senkt weiter die | |
| Standards“ geht nicht auf. Ich sage: Lasst die Qualitätsstandards bestehen | |
| und sorgt dafür, dass nicht ein wachsender Anteil von Studierenden die für | |
| sie offenkundig falsche Entscheidung trifft. Wer sich mit höherer | |
| Mathematik schwertut, aber ein Gespür für technische Vorgänge und ein | |
| Interesse daran hat, der ist im Ingenieurstudium an einer TU nicht gut | |
| aufgehoben. Dem ginge es an einer Fachhochschule oder auch im dualen System | |
| besser, und wenn dann auch eine Meisterprüfung avisiert wird, sind die | |
| beruflichen Perspektiven vergleichbar gut. | |
| Also wenn der Schreiner partout studieren will? | |
| Kann er – nach der Meisterprüfung – und soll er, wenn er das Interesse und | |
| die Fähigkeiten dazu mitbringt. | |
| Als Philosoph müssten es Sie doch freuen, wenn auch der Schreiner in seinem | |
| Werkstoffstudium mal was über Hegel oder Nussbaum gehört hat. | |
| Ja, klar, deshalb soll es meines Erachtens ja mehr Allgemeinbildung geben – | |
| auch in der beruflichen Bildung. Da muss man die Berufsschulen stärken. | |
| Aber die Vorstellung, die müssten alle ein wissenschaftliches Studium | |
| absolvieren, ist grotesk. Das ist auch eine massive Überschätzung der Rolle | |
| von Wissenschaft. Sie ist wichtig, aber nicht das Einzige auf der Welt. | |
| 29 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
| Anna Lehmann | |
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