| # taz.de -- Uni-Präsidentin über mehr Studenten: „Ich halte Akademisierung … | |
| > Gibt es zu viele Studenten? Von wegen, meint Ada Pellert, Präsidentin der | |
| > Deutschen Universität für Weiterbildung. Studieren stehe für Reflexion. | |
| Bild: Volle Säle? Umso besser. | |
| taz: Frau Pellert, gibt es zu viele Akademiker in Deutschland? | |
| Ada Pellert: Ich sehe das nicht so. Das ist ein Trend, den man in allen | |
| Gesellschaften beobachten kann: Immer mehr Berufe werden akademisiert. Ich | |
| halte das für gut. | |
| Der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin würde Ihnen widersprechen. Er | |
| kritisiert, dass die Akademisierung sowohl dem akademischen Niveau | |
| abträglich sei, als auch die duale Ausbildung gefährde. | |
| Für mich steht Academia für Reflexion. Dafür haben wir Wissenschaft; wir | |
| glauben, gesellschaftlich ist es gut, wenn Menschen nachdenken. Im | |
| deutschsprachigen Raum gibt es eine Art Arbeitsteilung: die einen forschen, | |
| und die anderen tun. Und sie kommen nicht zueinander. Das ist schlecht. | |
| Die, die tun, sollen immer wieder durch Reflexion in ihrem Tun irritiert | |
| werden. Dann wird das Tun besser. | |
| Herr Nida-Rümelin meint aber, eine Kindergärtnerin wird keine bessere | |
| Erzieherin, wenn sie studiert hat – im Gegenteil. | |
| Da schwingt immer die Angst mit, wenn alle an die Uni gehen, dann geht | |
| keiner mehr in die Praxis. Ich finde, das ist eine platte Vorstellung von | |
| beruflicher Praxis. Der Beruf der Erzieherin ist ein so anspruchsvoller, in | |
| einer so komplexen Umgebung, dass man sich mit anderen hinsetzen und | |
| überlegen muss, was sind die gesellschaftlichen Bedingungen des Berufs, was | |
| macht eine sich verändernde Gesellschaft mit Kindern, was heißt das für die | |
| eigene Rolle. Dadurch, dass die Gesellschaft so im Umbruch ist, brauchen | |
| wir mehr von solchen Leuten und nicht weniger. | |
| Aber dann kommen ganz andere Menschen an die Hochschulen. Sind die | |
| Hochschulen darauf überhaupt vorbereitet? | |
| Ich glaube nicht. Sie sind ja schon jetzt mit dem großen Andrang von | |
| Abiturienten überfordert. Ich glaube, mental hat man immer noch nicht | |
| verarbeitet, dass die Hochschulen Massenhochschulen sind. Ich finde das | |
| gut, das ist eine Errungenschaft. Aber in den Hochschule sagt man „Huch“. | |
| Die müssten ihr ganzes Bildungsmodell umstellen und sich viel stärker | |
| fragen, woher kommen unsere Studierenden, was bringen sie mit, was können | |
| wir voraussetzen, und wo müssen wir sie begleiten. Die Frage der | |
| Studierfähigkeit stellt sich heute anders. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Wir neigen dazu. klassisches Schulbuchwissen abzufragen. Aber die | |
| Eignungsprüfung „Höhere Algebra“ ist sicher nicht die einzige Möglichkeit | |
| festzustellen, ob jemand für ein Hochschulstudium geeignet ist. Wenn man | |
| Meistern und beruflich Erfahrenen formal den Zugang zur Hochschule | |
| ermöglicht, wie es ja inzwischen alle Universitäten tun, dann muss man mit | |
| deren Berufserfahrung arbeiten. Das muss sich auch in den Curricula | |
| wiederfinden. | |
| Oft heißt es, wenn die Zugangshürden sinken, sinkt das Niveau. Ist da was | |
| dran? | |
| Da muss man fragen, was ist ein akademisches Niveau im 21. Jahrhundert. | |
| Methodisch genau vorgehen, mit Quellen arbeiten, zitieren, das muss man im | |
| Studium natürlich lernen. Aber das kann man auch bei Abiturienten nicht | |
| mehr voraussetzen. Bisweilen glaube ich, man hat so eine Situation von 1950 | |
| im Kopf, wo eine ganz kleine Elite gut gebildet und belesen an die | |
| Hochschulen geht. Und dann ist das Niveau automatisch gesichert. Das war | |
| schon 1980, als ich studierte, nicht mehr so. Die Hochschulen müssen | |
| aufmachen. Doch es fällt ihnen schwer, mit Berufserfahrenen zu arbeiten. | |
| Warum? | |
| Weil „Berufserfahrung“ keine akademische Kategorie ist. Ich habe es immer | |
| als Privileg empfunden, mit Menschen, die aus dem Beruf kamen, zu arbeiten. | |
| Die DUW bietet fast ausschließlich berufsbegleitende Studiengänge an. Was | |
| ist dabei anders? | |
| Man kann sagen: In diesen kann man besseres Lernen organisieren. Ich | |
| glaube, dass Menschen gut lernen, wenn theoretischer Stoff an praktische | |
| Erfahrungen anknüpft. Ich muss das, was ich höre, ankern. Dann ist der | |
| Lerneffekt ein anderer, als wenn ich nur in einem Lehrbuch nachlese. | |
| Aber es gibt doch schon Hochschulen, die einzelne Veranstaltungen so | |
| konzipieren? | |
| Ja. Es sind vor allem Hochschulen in Regionen, die schon den demografischen | |
| Wandel spüren, die merken: Wenn wir nicht etwas unternehmen, wird es uns | |
| bald nur noch in sehr verkleinerter Form geben. Dann setzt Nachdenken ein | |
| und ein Interesse für neue Zielgruppen. In Berlin, wo sie nicht wissen, wie | |
| sie sich des Andrangs erwehren, gibt es wenige Anreize, sich zu verändern. | |
| Aber gerade in dünn besiedelten Regionen entsteht doch eine Konkurrenz | |
| zwischen Hochschule und Betrieben um Nachwuchs. Das geht doch vor allem | |
| zulasten der dualen Ausbildung? | |
| Wenn das unverbunden nebeneinandersteht, dann ja. Ich glaube, in der | |
| Kombination liegt die Lösung des Problems. Wichtig ist Durchlässigkeit. | |
| Eine Ausbildung darf keine Sackgasse sein. Besser wäre es, wenn Menschen, | |
| die als Azubi anfangen, nach der Ausbildung alle Wege offen stehen. Und | |
| daher glaube ich zutiefst, wir müssen Hochschule und Ausbildung verknüpfen. | |
| Wie denn? | |
| Die Hochschule öffnet sich und schätzt das praktische Wissen. Und umgekehrt | |
| muss der Betrieb Menschen die Möglichkeit geben weiterzumachen. Hochschulen | |
| und Betriebe müssen zusammenarbeiten. Da schaut jetzt die ganze Welt auf | |
| Deutschland und auf die duale Ausbildung. Natürlich ist das ein | |
| Erfolgsmodell, aber wir müssen sie ins 21. Jahrhundert transportieren. | |
| Ist das Modell der dualen Ausbildung veraltet? | |
| Wenn man genau hinschaut, dann ist die Ausbildung manchmal noch so, dass | |
| sich viele lieber dagegen entscheiden. | |
| Die dann im Studium scheitern. Bundesbildungsministerin Wanka möchte | |
| Studienabbrecher verstärkt für das Handwerk gewinnen. Ein vernünftiger | |
| Vorschlag? | |
| Ja, denn man muss anerkennen: Berufliche Bildung ist anders, aber | |
| gleichwertig. Das Grundproblem in Deutschland ist doch, dass das | |
| theoretische Wissen immer so ein bisschen runterschaut auf das praktische. | |
| Wir müssen beide Arten von Wissen immer wieder miteinander konfrontieren. | |
| Ich habe nichts von denen, die nur nachdenken und sich nicht von | |
| praktischen Erwägungen irritieren lassen. Aber auch nichts von Praktikern, | |
| die sich nicht trauen, Fragen zu stellen. Der praktische und der | |
| theoretische Bereich grenzen sich noch munter voneinander ab. | |
| Gibt es Länder, in denen es besser funktioniert? | |
| Im deutschsprachigen Raum hängen wir in so einer Bildungstradition, die | |
| Allgemeinwissen möglichst hoch bewertet. Da erlebe ich Länder wie Kanada | |
| und Australien entspannter. Die haben nicht diese Tradition, dass man erst | |
| einmal Goethe zitieren muss und dann ist man ein vollkommen gebildeter | |
| Mensch. | |
| Aber es heißt, in Kanada finde man keinen Fensterbauer, der von der Pieke | |
| auf gelernt hat, Fenster einzubauen. | |
| Aber genau dafür steht ja die duale Bildung. Man geht in die Schule und in | |
| den Betrieb. Das müssen wir weiterentwickeln auf Hochschulniveau. In China, | |
| wo ich oft bin, gibt es erstmals Akademikerarbeitslosigkeit. Dort wollen | |
| auch alle an die Uni. Der berufliche Bereich hat kein Standing. Was | |
| passiert? Die Chinesen sagen: „Vielleicht ist unsere akademische Ausbildung | |
| zu abstrakt.“ | |
| Die Akademisierung an sich wird nicht infrage gestellt? | |
| Nein. Nächste Woche kommen chinesische Bildungsforscher zu uns. Sie wollen | |
| wissen, wie man akademische Ausbildung praktischer machen kann. Deutschland | |
| könnte hier Vorreiter werden. | |
| 31 Dec 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
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| Julian Nida-Rümelin | |
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