| # taz.de -- Buch von Julian Nida-Rümelin: Mahner gegen die Akademisierung | |
| > Der Philosophieprofessor ruft auf zur Rückbesinnung auf die handwerkliche | |
| > Ausbildung. Und zum Erhalt der klassischen Uni – für eine Minderheit. | |
| Bild: Auf's Dach steigen? Gerne. Aber bitte nicht zu hoch hinaus, findet Julian… | |
| BERLIN taz | Der Klempner, der Schlosser, der Elektriker, sie sind in | |
| Gefahr. Sie stehen auf der Roten Liste, weil ihr Nährboden, die berufliche | |
| Bildung, schrumpft. Ursache ist, dass sich junge Menschen zunehmend für ein | |
| Studium anstelle einer beruflichen Ausbildung entscheiden. Die Sorge ist | |
| nicht neu, überraschend ist jedoch, dass sie nicht vom Vorsitzenden der | |
| örtlichen Handwerkskammer geäußert wird, sondern von Julian Nida-Rümelin, | |
| Philosophieprofessor in München. | |
| Nida-Rümelin, in dessen schlanken, langen Fingern man sich schwerlich eine | |
| klobige Rohrzange vorstellen kann, hat eine klassische Akademikerkarriere | |
| hingelegt. Der Sohn eines Künstlers besuchte das humanistische Gymnasium, | |
| studierte Physik, Mathematik und Politik, promovierte und wurde Anfang der | |
| 90er Jahre zum Professor berufen. Nun hat sich der Sozialdemokrat nie im | |
| Elfenbeinturm eingemauert, er war Kulturreferent in München und ein Jahr | |
| lang Kulturstaatssekretär unter Gerhard Schröder. | |
| Neu ist sein Posten als Mahner gegen eine fortschreitende Akademisierung | |
| der Gesellschaft. Denn die SPD plädiert ja gerade für eine Öffnung der | |
| Hochschulen auch für beruflich Qualifizierte und dafür, dass ein Studium | |
| auch ohne Abitur möglich wird. | |
| In seinem pünktlich zur Buchmesse erschienenen Werk – er selbst nennt es | |
| Essay – „Der Akademisierungswahn“ schreibt er: „Sollte der Trend zum | |
| Wechsel an die Gymnasien und zum zweiten Bildungsweg weiter anhalten, dann | |
| müsste den Universitäten die Möglichkeit zugestanden werden, mit | |
| Eignungsprüfungen den Zustand stärker zu reglementieren.“ | |
| ## Die Angst des Bildungsbürgers vor der Konkurrenz | |
| Wieso will Nida-Rümelin anderen verwehren, was er selbst in allen Facetten | |
| genossen hat? Es fällt schwer, dem Vater von drei Kindern nicht reflexhaft | |
| die Angst des arrivierten Bildungsbürgers vor der Konkurrenz durch die | |
| Bildungsaufsteiger aus Arbeiter- und Zuwandererfamilien zu unterstellen. | |
| Abwegig ist der Gedanke aber nicht. | |
| Nida-Rümelin schreibt, er argumentiere aus Sicht eines Philosophen, aber | |
| auch eines besorgten Bürgers. Als solcher betont er seine Wertschätzung für | |
| eine gründliche Bildung im humanistischen Sinne: Wissen als zweckfreie | |
| Suche nach begründeter Wahrheit, nach Vernunft. „Ich plädiere für ein | |
| Bildungssystem, das sich den Diktaten dieses Marktes nicht unterwirft, das | |
| Normen, Werte und Bildungsinhalte vermittelt, die nicht lediglich | |
| Instrument der Optimierung auf dem Arbeitsmarkt sind“, schreibt er. | |
| Doch gleichzeitig meint Nida-Rümelin, dass sich Deutschland auf einem | |
| gefährlichen Irrweg befinde, wenn man wie derzeit immer mehr junge Menschen | |
| zum Studium ermutige. Er prophezeit einen Mangel an spezialisierten | |
| Facharbeitern gegenüber einem Überschuss an unspezifisch ausgebildeten | |
| Akademikern. Die alte Furcht vor einer Akademikerschwemme im neuen Einband | |
| also. | |
| ## Schuld am Akademisierungswahn? Die OECD | |
| Als hauptverantwortlich für diesen „Akademisierungswahn“ benennt | |
| Nida-Rümelin nicht etwa bildungsbewusste Eltern und eine immer mehr auf | |
| Innovation statt auf Produktion setzende Volkswirtschaft, sondern die OECD. | |
| Jene Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die | |
| es im Zuge ihrer Pisa-Studien nie versäumte, auf den geringen Anteil | |
| akademisch gebildeter Fachkräfte hierzulande hinzuweisen. | |
| Nida-Rümelin führt Studien an, die zeigen, dass in Deutschland ein Engpass | |
| an Schlossern oder Klempnern droht. Doch ernsthafte Belege dafür, dass eine | |
| Volkswirtschaft schrumpft, wenn die Mitglieder höher qualifiziert sind, | |
| kann der Philosoph nicht vorweisen. | |
| Nida-Rümelin wirbt dafür, die berufliche Bildung gegenüber der akademischen | |
| wieder aufzuwerten und ihre Besonderheiten wahrzunehmen. | |
| „Handwerklich-technisches Wissen ist Wissen eines anderen Typs“, schreibt | |
| er und erklärt verklärt: „Wer einer umfassenden Akademisierung das Wort | |
| redet, verfolgt implizit eine Abkehr unseres Bildungswesens vom Haptischen, | |
| vom Handwerklich-Technischen.“ Dass auch studierte Zahnärzte gute | |
| Handwerker sein sollten und ausgebildete Schreiner eine Maschine | |
| programmieren müssen, sei dahingestellt. | |
| Doch wenn Nida-Rümelin konstatiert „Die Krise der beruflichen Bildung ist | |
| vor allem eine Krise der Anerkennungskultur“, macht er es sich etwas | |
| einfach. Er erwähnt zwar den Mehrwert von akademischer Bildung – besseres | |
| Einkommen, höhere Positionen –, wertet dies aber vor allem als | |
| statistisches Phänomen und versucht nachzuweisen, dass etwa Meister oder | |
| Techniker mehr verdienen als viele Geisteswissenschaftler. Um eine valide | |
| Aussage zu treffen, müsste Nida-Rümelin jedoch konsequent in einer Branche | |
| bleiben, also die Techniker mit den Ingenieuren vergleichen. | |
| ## Beispiel Schule: Gehälter gehen auseinander | |
| Ein Gegenbeispiel aus dem Bildungswesen selbst, aus einer Schule: Zwischen | |
| einer Erzieherin und einer Lehrerin, die im Rahmen des Ganztagsbetriebs eng | |
| zusammenarbeiten, klaffen auf dem Gehaltszettel Welten. Die Erzieherin | |
| bekommt, sofern sie im öffentlichen Dienst angestellt ist, ein | |
| Einstiegsgehalt von 2.311,21 Euro. Die ebenfalls angestellte | |
| Grundschullehrerin startet in der Tariftabelle der Länder mit 2.787,69 | |
| Euro. | |
| Die Gehaltsunterschiede werden mit der Zeit größer, nach fünf Jahren | |
| verdient die Lehrerin nicht mehr nur rund 440 Euro, sondern bereits 625 | |
| Euro mehr als ihre Kollegin. Beide betreuen dieselben Kinder, die | |
| Gehaltsunterschiede sind in erster Linie auf Unterschiede in der | |
| Qualifikation zurückzuführen. Die Lehrerin hat studiert, die Erzieherin | |
| nicht. Die Lehrerin kann mal Schulleiterin werden, nicht die Erzieherin. | |
| Eine Gleichstellung von Lehrern und Erziehern könnte über eine | |
| Akademisierung des Erzieherberufs erreicht werden. Doch das lehnt | |
| Nida-Rümelin ab: „Die Akademisierung der beruflichen Bildung ist in der | |
| Regel mit einem Qualitätsverlust und nicht zu einem Qualitätsgewinn | |
| verbunden“, schreibt er. Wieso eine Erzieherin mit einem Bachelor in | |
| Kindheitspädagogik schlechter ausgebildet sein soll als eine Erzieherin mit | |
| einer fachschulischen Ausbildung erschließt sich jedoch nicht. | |
| Nida-Rümelin sieht durchaus Reformbedarf in der beruflichen Bildung. Die | |
| auf über 300 Berufe ausgerichtete duale Ausbildung sei zu kleinteilig, | |
| konstatiert er und fordert, dass allgemein bildende und wissenschaftliche | |
| Anteile ein höheres Gewicht erhalten sollten. So solle die Ausbildung auch | |
| für Abiturienten wieder anspruchsvoller und damit attraktiver werden. | |
| Umgekehrt will er jedoch vermeiden, praktisch gebildeten Menschen den | |
| Besuch von universitären Veranstaltungen zu erleichtern. Gestiegene | |
| Abbruchquoten infolge der höheren Einschreibezahlen? Wunderbar! Das sei | |
| nicht als Versagen der Hochschuldidaktik zu werten, schreibt Nida-Rümelin, | |
| sondern als „Aufforderung an diejenigen, die sich für den falschen | |
| Bildungsweg entschieden haben, diese Entscheidung rasch zu korrigieren und | |
| damit eine für sie selbst und für die Gesellschaft sinnvollere berufliche | |
| Tätigkeit anzustreben“. | |
| ## Für eine humane Differenzierung | |
| Wenn sich Nida-Rümelin gegen Gleichmacherei und für eine humane | |
| Differenzierung ausspricht, benutzt er das gleiche Vokabular wie die Gegner | |
| von „Einheitsschulen“ und Verfechter des klassischen dreigliedrigen | |
| Schulsystems, bestehend aus Haupt-, Realschule und Gymnasium. „Die | |
| dünkelhafte Herabsetzung handwerklicher und technischer Begabungen und | |
| Interessen sollte endlich der Vergangenheit angehören“, fordert er. | |
| Vordergründig ging es auch den Hauptschulapologeten um die Wertschätzung | |
| solcher Begabungen, gleichzeitig nahmen sie in Kauf, dass ein nach | |
| Begabungen differenzierendes Schulsystem Kinder aus einfachen Schichten | |
| krass benachteiligt. | |
| Als Sozialdemokrat prangert Nida-Rümelin die skandalös hohe „soziale | |
| Selektivität“ in Deutschland an und schlägt nun schlicht vor, den Begriff | |
| einzumotten. „Er ist zur Kritik der allzu frühen Weichenstellung der | |
| Bildungswege sinnvoll gewesen, aber er ist einer überkommenen | |
| Bildungsideologie verhaftet.“ Doch selbst wenn man allen Dünkel fahren | |
| lässt, bleibt immer noch die Tatsache, dass von 100 Akademikerkinder 77 | |
| studieren, während nur 23 von 100 Facharbeiterkindern den Weg an die Uni | |
| finden. | |
| Eine durchdachte Bildungsexpansion, wie sie Nida-Rümelin vorschlägt, sollte | |
| vor allem über den Ausbau der Fachhochschulen erfolgen, um eine dramatische | |
| Überbelastung der Universitäten zu vermeiden. Ein FH-Studium will der | |
| Uni-Professor im Übrigen nicht als akademische Bildung verstanden wissen. | |
| Das impliziert, dass die Bildungsaufsteiger sich bitteschön an den FHs | |
| einschreiben, während das Bildungsbürgertum die Plätze in den Hörsälen für | |
| den eigenen Nachwuchs reserviert. | |
| Nida-Rümelins Plädoyer für eine erneute Hinwendung zur Berufsausbildung | |
| liest sich denn auch eher wie eine Streitschrift für die Universität der | |
| Wenigen. Frei nach dem Motto: „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“ | |
| 9 Oct 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
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