# taz.de -- Kolumne Wortmeldung: Die Realität sieht anders aus | |
> Nur ein Studium macht fit für den Arbeitsmarkt? Von wegen! Immer mehr | |
> Akademiker machen sich bald selbst Konkurrenz. | |
Bild: Müssen die alle studieren? | |
Wie jeder Wahn sitzt auch der Akademisierungswahn in den Köpfen. Es handelt | |
sich um realitätsferne Vorstellungen, die allerdings Einfluss auf Politik, | |
Gesellschaft und Individuen nehmen. Zu diesem Wahn gehört die fixe Idee, | |
dass nur ein akademisches Studium für den globalisierten und hoch mobilen | |
Arbeitsmarkt der Zukunft vorbereiten könne. | |
Repetitive Tätigkeiten würden in Zukunft weniger nachgefragt, daher | |
verliere die berufliche Bildung an Bedeutung. Das ist eine realitätsferne | |
Vorstellung, schon deswegen, weil es zahlreiche akademische Berufe mit | |
einem hohen Anteil repetitiver Tätigkeiten gibt und zahlreiche nicht | |
akademische Berufe, die Improvisationstalent, schnelle Auffassungsgabe und | |
hohe Mobilität verlangen. | |
Im Kern des Akademisierungswahns steht die Abwertung aller | |
Berufstätigkeiten, ja generell von Aktivitäten, die haptischer oder | |
sozialer Natur sind, die eine Nähe zu Dingen oder Menschen verlangen. Die | |
über Jahrzehnte erfolgte kulturelle Abwertung beruflicher Bildung ist in | |
Verbindung mit der in der Mittelschicht zunehmend verbreiteten | |
Abstiegsangst zu einem machtvollen gesellschaftlichen Movens geworden, das | |
sich von Argumenten nur schwer erschüttern lässt. | |
Die oft selbst erst zur Mittelschicht aufgestiegenen Eltern üben massiven | |
Druck aus, damit ihre Sprösslinge das Abitur erreichen; in der fälschlichen | |
Annahme, dass nur das Abitur die Zugehörigkeit zur Mittelschicht sichern | |
könne. | |
Die soziologischen Daten sprechen für Deutschland eine ganz andere Sprache: | |
Der überwiegende Teil der Mittelschicht hat keinen akademischen | |
Berufsabschluss. Besonders grotesk ist die Vorstellung, dass die | |
traditionell starke Rolle beruflicher Bildung und die über alle Jahrgänge | |
hinweg niedrige Akademikerquote in Deutschland die soziale Mobilität | |
behindere. | |
## Hohe Akademikerquote, hohe Arbeitslosigkeit | |
Das Gegenteil ist leicht belegbar: Die "Bildungsgroßmacht" Großbritannien | |
mit einer doppelt so hohen Akademikerquote und aktuell 64 Prozent | |
Studienanfängern pro Jahrgang hat nicht nur eine doppelt so hohe | |
Jugendarbeitslosigkeit und ein niedrigeres Bruttoninlandsprodukt pro Kopf, | |
sondern weist im Vergleich zu Deutschland auch eine katastrophal geringe | |
soziale Mobilität auf. Deutschland ist zusammen mit den skandinavischen | |
Ländern und Kanada in der Spitzengruppe der sozial mobilsten | |
Industrieländer. | |
In der Tat hat sich das deutsche Bildungssystem, zusammen mit dem | |
österreichischen und dem schweizerischen, seit den späten siebziger Jahren | |
über Jahrzehnte hinweg widerspenstig gezeigt, und erst seit etwas mehr als | |
einer Dekade kommt diese Dynamik in Gang, die seit Jahrzehnten von | |
Deutschland gefordert wurde. | |
In der Fortschreibung wird dies dazu führen, dass fast fünf Millionen | |
Stellen nicht akademischer Fachkräfte zwischen 2010 und 2030 unbesetzt | |
bleiben werden, wie das Bundesinstitut für berufliche Bildung | |
prognostiziert, während in dieser Zeit zusätzlich - trotz demografischer | |
Schrumpfung - 1,7 Millionen Studienabsolventen auf Jobsuche gehen werden. | |
Dies wird zu einem wachsenden Teil unterwertiger Beschäftigung führen, zu | |
weiteren Verdrängungen und in der Folge zu einer Fehlsteuerung des | |
Bildungswesens. | |
## Aufwertung beruflicher Bildung | |
Wir brauchen eine Neujustierung, die sich durchaus in vernünftigen Bahnen | |
lenken lässt, zumal eine moderate Anhebung der Akademikerquote um 50 | |
Prozent von gegenwärtig 18 Prozent auf 27 Prozent der Bevölkerung sinnvoll | |
zu sein scheint. Damit diese immer noch mögliche Entwicklung nicht verfehlt | |
wird, ist allerdings eine Vielzahl von Maßnahmen nötig, zu denen die | |
Aufwertung beruflicher Bildung, auch in Gestalt der staatlichen Förderung | |
von Berufsschulen, gehört, eine stärkere Integration handwerklicher und | |
sozialer Praxis in den gymnasialen Bildungskanon und vor allem eine bessere | |
Bezahlung derjenigen, auf die Wirtschaft und Gesellschaft in Zukunft noch | |
weit mehr angewiesen sein werden als heute. Dazu zählen besonders die | |
betreuenden und pflegenden Berufe. | |
Mein zentrales Argument ist aber kein ökonomisches, sondern ein | |
kulturelles: Ich plädiere für eine humane Bildung, die nicht selektiert, | |
sondern differenziert, die Menschen mit ganz unterschiedlichen Begabungen | |
und Interessen jeweils attraktive Angebote unterbreitet und es ihnen | |
ermöglicht, ihren eigenen Weg der Bildung und des Berufs zu finden. Ich | |
plädiere für eine Kultur des Respekts, also das Gegenteil von elitärer | |
Abschottung, akademischer Elite. | |
Ich plädiere für Gleichwertigkeit, nicht für Gleichartigkeit, für | |
Diversität im jeweiligen Bildungssystem und zwischen unterschiedlichen | |
Bildungssystemen weltweit. Chancengleichheit wird nicht durch Nivellierung | |
und Homogenisierung, sondern durch Diversität und gleichen Respekt | |
gesichert. | |
7 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Julian Nida-Rümelin | |
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