# taz.de -- Philosophie-Kongress in Berlin: Radikal zieht an | |
> Akzeleration, „Terror des totalen Daseins“, akademischer Diskurs: Die | |
> britische Zeitschrift „Radical Philosophy“ lud in Berlin zum Kongress. | |
Bild: Beschleunigung hat immer auch ihre Beschränkungen. | |
BERLIN taz | Wie können heute linke radikale philosophische Interventionen | |
aussehen? Das Kollektiv der britischen Zeitschrift Radical Philosophy hatte | |
zwei Tage zum Kongress in das Berliner Haus der Kulturen der Welt | |
eingeladen, um dieser Frage nachzugehen. Dabei sollten Philosophen, | |
Künstler und Kulturwissenschaftler über „aktuelle Themen kritischer | |
Gesellschaftstheorie“ diskutieren. Das Programm las sich dementsprechend: | |
von Akzeleration über Queer Theory bis zu Überwachung. | |
Seit 1972 publiziert Radical Philosophy zu aktuellen Themen, zum Beispiel | |
über Algorithmen, die schottische Unabhängigkeit oder gesetzlichen Terror. | |
Die Zeitschrift ist als „Produkt der Studentenbewegung“ entstanden, sagt | |
Peter Osborne, Teil des Redaktionskollektivs, bei der Eröffnung. Das war | |
eine Zeit, in der in Großbritannien vor allem die analytische Philosophie | |
dominierte. | |
Aus dieser Tradition heraus gab das Kollektiv der Zeitschrift 1992 den | |
Untertitel „a journal of socialist and feminist philosophy“ – als | |
polemisches Distinktionsmerkmal. Andere Magazine trennten sich gerade von | |
ihren Untertiteln, wie Osborne sagt. | |
Der Kongress beginnt mit einem Panel zur Akzeleration, einem | |
neomarxistischen Thema, das die Beschleunigung im Kapitalismus kritisiert. | |
Durch [1][//www.merve.de/index.php/book/show/467:ein Manifest von 2013] ist | |
Akzeleration (lat. Beschleunigung) als das Thema in einen linken Diskurs | |
gerückt. Armen Avanessian, Nick Land und Nick Srnicek sehen in ihr eine | |
Chance, um den Kapitalismus zu überwinden, denn wenn die | |
Arbeitsverhältnisse technologisierter werden, dann solle man gerade dieses | |
technologisierte Potenzial verwenden, um über den real existierenden | |
Kapitalismus hinauszugelangen. | |
## Jubel der Akzeleration als Antwort auf die Krise des Sozialismus | |
Anstatt sich jedoch konkret mit Avanessian, Land und Srnicek | |
auseinanderzusetzen, befassen sich die Vorträge von David Cunningham und | |
Frank Engster mit dem Thema Beschleunigung im Generellen, was die beiden | |
dann auch dazu veranlasst, sich selbst und ihre Gedanken in ihrem Vortrag | |
zu beschleunigen. Cunningham versteht den Jubel der Akzeleration dabei als | |
Antwort auf die Krise des Sozialismus. | |
Bevor die Philosophin Nina Power ihren Vortrag beginnt, sagt sie: „Ich | |
fühle mich wie Britney Spears“, eine Anspielung auf den Ort, denn auf dem | |
Podium sind die Scheinwerfer auf sie gerichtet. In ihrem Vortrag spricht | |
sie sich für einen De-Kapitalismus statt einen Anti-Kapitalismus aus. Dabei | |
ist das Präfix „de-“ von Bedeutung, weil es für ein Rückgängigmachen st… | |
und nicht wie „anti-“ nur für eine gegnerische Einstellung. „De-“ drü… | |
also den Akt der Aufhebung aus. | |
Die Überführung der philosophischen Positionen ins Heute scheint die | |
schwierigste Aufgabe zu sein. Dabei ziehen Adjektive wie „radikal“ gerade | |
die Massen an, dafür begeben sich junge Menschen in eine | |
Vorlesungssituation. Das Konzept des Kongresses ist: Jeweils drei Vertreter | |
tragen 20 Minuten vor, danach soll sich eine Diskussion ergeben. Allerdings | |
ergibt sich daraus eher ein Textvorlesen, die Performance wird zweitrangig. | |
## Wer den Referenztext nicht kennt, hat verloren | |
Wenn beim „Queer Theory & Geopolitics“-Panel Antke Engel, Direktorin des | |
Berliner Instituts für Queer Theory, davon spricht, wie eine queere Politik | |
de-normalisierend, de-hierarchisierend und nicht-normativ wirken soll, | |
könnte sich diese Trias auch auf die Art eines Vortrags übertragen lassen – | |
dabei könnte so etwas Neues entstehen. | |
So bleibt aber die „radikale Philosophie“ nach zwei Tagen Kongress in ihrem | |
akademischem Diskurs stecken. Und wie sie es von schriftlichen Essays | |
gewohnt sind, arbeiten sich die Vortragenden an anderen Positionen ab oder | |
benennen die vielen Referenzpunkte. Was wiederum bedeutet: Wer den | |
Referenztext nicht kennt, hat verloren. So lässt sich jedoch in den | |
seltensten Fällen eine eigene subversive Position entwickeln, die über die | |
Kritik von etwas hinausgeht und eben auch außerhalb des universitären | |
Betriebs Bestand hat. | |
Dass die Performance doch zählt, zeigt die Künstlerin Hito Steyerl in dem | |
„Artistic Strike“-Panel mit einfachen Mittel wie Humor und freier Rede. | |
Steyerl sprach vom „Terror des totalen Daseins“, der Künstlerinnen und | |
Künstler – aber auch uns alle – zwingen würde, ständig präsent zu sein;… | |
präsent, dass am Ende auch das Werk nicht mehr zählt. Dabei würden die | |
Fragen-und-Antworten-Runden wichtiger werden als das Werk selbst. | |
Das mag auf den ersten Blick banal wirken, aber Steyerl schafft es gerade | |
durch ihre Präsenz und die Art vorzutragen, ihre These weiterzudrehen, auf | |
Arbeit zu beziehen und dadurch eben nicht die Diskussion wichtiger werden | |
zu lassen als das Kunstwerk. | |
18 Jan 2015 | |
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## AUTOREN | |
Enrico Ippolito | |
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