Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Lukrez über sexuellen Genuss: Materialismus gegen Todesangst
> Man darf den römischen Dichter Lukrez als einen radikalen Humanisten im
> Sinne des frühen Karl Marx lesen. Er verordnet Sinnenfreude.
Bild: Das zufällige Spiel der Atome hat die Menschen in eine Welt geworfen, di…
Der Galiani Verlag hat ein Buch veröffentlicht, das sich nicht nur als
besonders schönes, teures Geschenk eignet, sondern zudem seinen erlesenen
Inhalt in seiner materiellen Gestalt zum Ausdruck bringt – Philosophie für
die Gutverdienenden.
In edelstes Leinen gebunden, auf hochwertigem Papier in klarem Satz
gedruckt, liegt ein Hand- und Augenschmeichler sondergleichen vor: des
römischen Autors Lukrez – er lebte im ersten Jahrhundert vor der
christlichen Zeitrechnung – im Original in Hexameterversen gehaltene
philosophische Studie „Über die Natur der Dinge“. Bisher war dieser Text
lediglich in einer in Versen gehaltenen, eher unansehnlichen zweisprachigen
Ausgabe zu erhalten.
Der Übersetzer Klaus Binder, dem es gelungen ist, die lateinischen Verse in
eine bestens lesbare, frei schwingende Prosa zu übertragen, widmet die
deutsche Neuausgabe seinem philosophischen Lehrer Alfred Schmidt, einem
Schüler Max Horkheimers, der mit einer Arbeit über den Begriff der Natur
bei Marx bekannt wurde. Er ließ Binder, wie er in der Widmung schreibt,
begreifen, „dass Materialismus Leben heißt und offene Sinne“.
Tatsächlich war Lukrez, der Autor dieses jahrhundertelang verschollenen,
erst in der Renaissance wiederentdeckten Textes, das, was die Geschichte
der Philosophie als einen „Materialisten“ bezeichnen würde.
## Begehren und Wollust
Genauer: Lukrez war ein Anhänger des hellenistischen Philosophen Epikur und
versuchte in seinem Werk „Über die Natur der Dinge – De rerum natura“
darzulegen, dass die ganze Welt letztlich aus unteilbaren kleinen
Partikeln, aus Atomen besteht, dass also auch Seele und Geist nichts
anderes sind, als hochkomplexe Zusammensetzungen dieser Elemente und sie
daher kein eigenes, unabhängiges Leben jenseits der Körper, in die sie
eingelassen sind, haben. Dann aber – und das ist der therapeutische
Grundgedanke dieser Philosophie – ist die Furcht vor dem Tode ebenso wie
vor den Göttern, ist die Hoffnung auf ein jenseitiges Leben oder die
blutige, grausame Praxis des Tier- und Menschenopfers schlicht sinnlos.
Man kann sich daher den römischen Naturphilosophen Titus Lucretius Carus,
der von anderen römischen Autoren sowie von einem Kirchenvater erwähnt
wird, sehr gut als einen „medicus“, als einen Arzt vorstellen, der einen
sorgfältigen Blick mit dem unbedingten Willen verbindet, anderen Menschen
die Angst zu nehmen und ihnen auch sonst helfend beizustehen.
Daher ist es ihm ein Anliegen, seinem Publikum sexuellen Genuss geradezu zu
verschreiben. Freilich hat die von ihm verordnete Sinnenfreude nichts oder
nur wenig mit der Sinnlichkeit erotischer, romantischer Liebe zu tun – im
Gegenteil: In seinen Empfehlungen zur körperlichen Liebe erweist sich
dieser Philosoph der von ihm sonst bekämpften stoischen Lehre näher, als er
wahrhaben will; geht es ihm doch vor allem darum, seine LeserInnen vor
leidenschaftlicher Liebe zu warnen.
„Begehren und Wollust ist Venus für uns; von daher der Liebe Namen; von
daher tropft uns Venus zuerst süßen Tau ins Herz, und darauf folgend
abkühlend Kummer und Sorgen.“ Entsprechend empfiehlt Lukrez, die Liebe zu
meiden und „die drängenden Säfte in einen beliebigen Leib zu schleudern,
statt sie für die Eine zu bewahren …“
## Keineswegs heteronormativ
Zu dieser Übersetzung sei angemerkt, dass der lateinische Text keineswegs
heteronormativ argumentiert – das Geschlecht der Leiber, in die „drängenden
Säfte geschleudert“ werden sollen, bleibt im lateinischen Text unbestimmt.
Umso mehr nimmt Lukrez Sorgen um das Zeugen und Empfangen von Kindern ernst
und empfiehlt präzise, wie ein entsprechender Geschlechtsakt zu vollziehen
sei – habe es doch gar keinen Zweck, „wenn sich die Frau lüstern bewegt;
vielmehr hindert es die Empfängnis, wenn sie in ihrer Lust den Akt des
Mannes mit schwingendem Hintern, mit weich wogenden Brüsten erwidert. Damit
wirft sie den Pflug nur aus der Furche …“
Tatsächlich ging es diesem materialistischen Menschenfreund um Kinder und
ihr Wohlergehen; nur sehr wenige Autoren einer Epoche, in der missgebildete
Kinder straffrei umgebracht werden durften, haben sich so einfühlsam zum
Schicksal Neugeborener geäußert: „Denke auch an Kinder: Wie ein von
tosenden Wellen an den Strand geworfener Seemann, so liegt der Säugling am
Boden, nackt und ohne Worte, jeder Hilfe bedürftig. Kaum hat ihn die Natur
unter Wehen aus dem Leib der Mutter ans Licht des Tages gestoßen, da füllt
er mit kläglichem Wimmern den Raum – wie auch anders, hält ihm das Leben
doch viele Leiden bereit.“
Mit dieser düsteren Feststellung ist die Frage nach der Eignung der Natur
für die Menschen sowie danach gestellt, ob Lukrez am Ende ein Vorläufer der
Darwin’schen Evolutionstheorie ist. Klaus Binder wird in seinen – im
Originaltext nicht vorfindlichen – Zwischenüberschriften nicht müde, darauf
hinzuweisen, dass Lukrez gegen eine teleologische Naturbetrachtung im
Geiste des Aristoteles anschreibt: Das zufällige Spiel der Atome hat die
Gattung der Menschen in eine Welt geworfen, die ihnen nicht gewogen ist.
Warum dann aber die Tiere dieser Welt besser angepasst sind als die
Menschen, kann auch Lukrez nicht erklären. Wer das zufällige Spiel der
Atome für das letzte Erklärungsprinzip von allem hält, wird natürlich jedem
Gedanken einer Schöpfung aus dem Nichts entschieden widersprechen. Dazu
musste Lukrez das Judentum seiner Zeit nicht kennen, Platons Dialog
„Timaios“ drückt keinen anderen Gedanken aus.
## Menschen, Tiere, Pflanzen
Damit steht schließlich in Frage, ob Lukrez – wie er in der Renaissance,
etwa von Giordano Bruno, gelesen wurde – ein Atheist war. Das war er nicht
– jedenfalls nicht im heutigen Sinne dieses Begriffs. Für Lukrez gehörten
Götter ebenso zur Welt wie Sterne, Pflanzen, Tiere und Menschen. Sie sind
seiner Überzeugung nach Wesen, die selig, unsterblich, von Leid und Mitleid
unberührt, in ihren eigenen Sphären existieren. Als solche aber haben sie
keinen Grund, sich die Zuneigung und Anbetung der Menschen zu wünschen:
„Welchen Vorteil könnten sie, die doch selig sind und unsterblich, aus
unserer Gunst ziehen.“
Wenn aber die Menschen den Göttern gleichgültig sind, können auch den
Menschen die Göttern egal sein. Für der Menschen Wohl und Wehe können und
müssen alleine die Menschen einstehen. Man darf Lukrez daher als einen
radikalen Humanisten im Sinne des frühen Karl Marx lesen. Verfasste dieser
doch 1841 eine Dissertation zum Thema der Differenz zwischen demokritischer
und epikureischer Naturphilosophie.
Indes: Auch der sinnenfrohe Materialist Lukrez kommt ohne letzten
Sinnbezug, ohne Appell an das Göttliche nicht aus. In seinem Fall zeigt
sich das bei der Anrufung der Göttin Venus, mit der er sein Lehrgedicht
eröffnet: „Mutter […] der Menschen und der Götter Wonne, Venus, Spenderin
des Lebens […]. Dir verdankt alles Belebte Empfängnis, den ersten Blick auf
der Sonne Licht …“
Es ist die Göttin Venus, die Lukrez anruft, beim Schreiben des Lehrgedichts
seine Gefährtin zu sein – ein Wunsch, ein Begehren, das er später für
sinnlos erklären wird, leben doch die Götter, auch deren höchste, in
selbstgenügsamer Abgeschiedenheit. Wohlwollende Leser werden diesen
Widerspruch für unerheblich und die ersten Zeilen des Gedichts für eine
Floskel halten – aber warum?
Drängt sich doch der Eindruck auf, dass Lukrez seinen Atheismus nicht
wirklich durchhält, er vielmehr zunächst einen Schöpfungsglauben
propagiert, an dem er jedoch angesichts des Elends der Welt sowie des
ausbleibenden Eingreifens der Götter verzweifelt. Juden- und Christentum
versuchen bis heute, diesen Widerspruch auszuhalten.
18 Jan 2015
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Liebe
Sex
Philosophie
Alfred Schmidt
Philosophie
Marquis de Sade
Philosophie
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neuer Sammelband zu Alfred Schmidt: Stoffwechsel von Mensch und Natur
Sein Werk bleibt: Der Frankfurter Philosoph Alfred Schmidt war ein Pionier
des Nachdenkens über die „Naturbasis jeder denkbaren Gesellschaft“.
Philosophie-Kongress in Berlin: Radikal zieht an
Akzeleration, „Terror des totalen Daseins“, akademischer Diskurs: Die
britische Zeitschrift „Radical Philosophy“ lud in Berlin zum Kongress.
200. Todestag des Marquis de Sade: Die bizarren Neigungen der Natur
Vor 200 Jahren starb der Marquis de Sade. Sein Wunsch, aus dem Gedächtnis
der Menschen getilgt zu werden, ging nicht in Erfüllung.
Soziologe Zygmunt Bauman: Sinn und Wahnsinn der Moderne
Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zeichnet Zygmunt Bauman für sein
Lebenswerk aus. Eine Laudatio auf den großen Soziologen und Philosophen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.