# taz.de -- Neuer Sammelband zu Alfred Schmidt: Stoffwechsel von Mensch und Nat… | |
> Sein Werk bleibt: Der Frankfurter Philosoph Alfred Schmidt war ein | |
> Pionier des Nachdenkens über die „Naturbasis jeder denkbaren | |
> Gesellschaft“. | |
Bild: Schmidt war ein Pionier des Nachdenkens über die „Naturbasis jeder den… | |
Alfred Schmidt (1931–2012) war von 1972 bis 1999 Philosophieprofessor in | |
Frankfurt/Main – als Nachfolger von Jürgen Habermas auf dem ehemaligen | |
Lehrstuhl Max Horkheimers. Schmidt wurde 1960 bei Adorno und Horkheimer mit | |
einer Arbeit über den „Begriff der Natur in der Lehre von Marx“ promoviert. | |
Ganz und gar untypisch ist die Langzeitkarriere seiner Dissertation. | |
Das akademische Gesellenstück wurde nämlich in 18 (!) Sprachen übersetzt | |
und ist in 5. Auflage immer noch auf Deutsch greifbar. Wer sich zwischen | |
1966 und der Jahrtausendwende an europäischen und amerikanischen | |
Universitäten für Marx interessierte und Philosophie studierte, kam an | |
Schmidts „Natur-Buch“ nicht vorbei. Dessen Gesamtauflage, einschließlich | |
diverser Raubdrucke in den 1970er Jahren, ist nicht bekannt. | |
Die wohl nur von Johannes Agnolis „Transformation der Demokratie“ (1968) | |
übertroffene Verbreitung der Dissertation, die die Marx-Rezeption in der | |
BRD maßgeblich beeinflusste, straft Adornos zutreffendes, aber Schmidts | |
Verdienste schmälerndes Urteil im Vorwort zur ersten Auflage Lügen: „Die | |
Arbeit ist ein Beitrag zur philosophischen Marx-Interpretation.“ Nein, sie | |
ist viel mehr – sie öffnete die Augen für eine nicht von | |
„marxistisch-leninistischen“ Phrasen und Dogmen vernagelte Sicht auf Marx’ | |
Werk. | |
Insofern ist es sehr verdienstvoll, dass Michael Jeske und Bernard Görlich | |
einen Sammelband mit sieben weniger bekannten Aufsätzen und Vorträgen | |
Schmidts aus den Jahren 1970 bis 1993 veröffentlichen sowie ein 1995 | |
zwischen Schmidt und Bernard Görlich geführtes Gespräch. | |
Schmidts Beschäftigung mit Marx verfolgte immer das Ziel, Marx’ | |
Materialismus als Konzeption darzulegen, die frei war von grobschlächtigen | |
erkenntnistheoretischen Abbild- oder Widerspiegelungstheorien im Sinne | |
einer wörtlich verstandenen Theorie, wonach das Sein das Bewusstsein | |
bestimmt. Philosophisch gesehen verharrt diese Theorie auf dem Niveau des | |
Kalauers: „Der Mensch ist, was er isst.“ | |
## Idee und Materie | |
Marx geht nicht von einer subjektlosen Materie- und einem objekt- bzw. | |
weltlosen Subjektbegriff aus, sondern vom „Stoffwechsel von Menschen und | |
Natur“ (Marx) und den damit verbundenen, historisch bestimmten Formen | |
gesellschaftlicher Praxis des „Gattungswesens“ Mensch, also dem komplexen | |
Zusammenspiel von Arbeit, Interaktion und Sprache. Schmidt spricht in | |
diesem Zusammenhang schon in den 70er Jahren von einem „qualitativ neuen | |
Materialismus.“ Als Kenner der Geschichte des Materialismus seit der Antike | |
machte er in seiner Dissertation, in seinem Feuerbach-Buch und in Aufsätzen | |
und Vorträgen immer wieder auf Marx’ Materialismus aufmerksam. | |
Geleitet von Hegels Sicht auf die philosophische Bedeutung von Arbeit in | |
der Geschichte, verabschiedete sich Karl Marx vom gleichsam statischen | |
Materialismus des 18. Jahrhunderts und stellte die pulsierende | |
gesellschaftliche Praxis – den Prozess der wechselseitigen Vermittlung von | |
Idee und Materie, Geist und Natur – in den Mittelpunkt seiner Philosophie. | |
Erst Marx gelangte so zu einer „Konzeption der menschlichen Wirklichkeit | |
als Tätigkeit“ (Alfred Schmidt), das heißt, als gesellschaftliche Praxis in | |
der Geschichte und von dieser geprägt – weder von „Ideen“ noch von | |
naturalen oder atomar-molekularen Substraten oder einer wie auch immer | |
vorgestellten Menschennatur, wie alte Materialisten und neuere | |
Sozialdarwinisten bis in die jüngste Gegenwart meinten und meinen. Schmidt | |
setzte sich auch ab von der geschichtsphilosophisch-spekulativ befeuerten | |
Beschwörung des „Nichtidentischen“, die in der Adorno-affinen epigonalen | |
Kleinmeisterprosa üblich war und ist. | |
## Untiefen der Theorie | |
In seinem Aufsatz zum „Erkenntnisbegriff der politischen Ökonomie“ (1968) | |
zeigte Schmidt den Doppelcharakter der Marx’schen Kritik an den realen | |
politisch-ökonomischen Verhältnissen und am theoretischen Selbstverständnis | |
der Theoretiker der klassischen Ökonomie oder daran, wie sich die | |
Widersprüche in der gesellschaftlich-ökonomischen Realität dialektisch | |
reproduzieren als Untiefen der Theorie. So hat sich der 1931 in Berlin | |
geborene und 2012 in Frankfurt verstorbene Philosoph Alfred Schmidt immer | |
energisch gewehrt gegen die Zurechnung von theoretischen Zumutungen und | |
politischen Brutalitäten des „real existierenden Sozialismus“ zur | |
Marx’schen Theorie. | |
Solche Zurechnungen beruhen auf durchsichtigen politischen Kalkülen oder | |
der Umdeutung von kritisch gemeinten Kategorien in affirmative, wie sie | |
„der fantasiefeindliche, nichts als wissenschaftliche Sozialismus“ | |
(Schmidt) selbst anpries, um zu kaschieren, dass weder die Orientierung an | |
„Wissenschaftlichkeit“ noch die Umwälzung der „Eigentumsverhältnisse“… | |
menschenrechtlich, ökonomisch und für Schmidt besonders wichtig: ökologisch | |
auch nur halbwegs akzeptablen Zuständen führen. | |
Schmidt war ein Pionier des Nachdenkens über die „Naturbasis jeder | |
denkbaren Gesellschaft“, was allerdings nicht heißt, dass er über | |
„Welträtsel“ (Ernst Haeckel) oder „Weltformeln“ (Stephen Hawking) | |
spekulierte. | |
4 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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