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# taz.de -- Vorlesungsmitschriften aus dem 19. Jh.: Naturforscher und Antirassi…
> Die Mitschriften des Naturforschers Miklucho-Maclay geben einen
> einzigartigen Einblick in den Lehrbetrieb der Universität in der 1860er
> Jahren.
Bild: Der Naturforscher Nikolai Nikolajewitsch Miklucho-Maclay auf Expedition a…
„Die Blätter athmen nicht weil sie Blätter sondern weil sie grünn sind.“
Was wie ein philosophischer Kalenderspruch anmutet, galt als
wissenschaftliche Formulierung. Nikolai Nikolajewitsch Miklucho-Maclay,
Student der Naturwissenschaften in den 1860er Jahren in [1][Jena], schrieb
diesen Satz in seine Studienmitschriften, die einen Blick auf eine andere
Zeit der Hochschullehre ermöglichen.
Manche Dinge ändern sich, manche andere überdauern Jahrhunderte. Die
Grundstruktur eines Hörsaals hat sich in den letzten 160 Jahren kaum
geändert. Nach unten abfallende Reihen von Holzbänken und eine grüne Tafel
an der Rückseite des Raumes bilden seit Langem die Kernstücke der Säle,
inzwischen oft durch ein Whiteboard, einen Beamer und Lautsprecher ergänzt.
Die Tintenfasshalter sind dafür verschwunden.
Die Änderung der Raumausstattung zeugt nicht nur von einer Modernisierung
der Universitäten, sondern weist auch auf eine veränderte Lehre hin. Dank
Powerpoint und Handy gibt es kaum noch Tafelbilder und zumeist eher
sparsame Mitschriften der Studenten.
So weit wenig überraschend, doch genauere Vergleiche ließen sich
beispielsweise in den Fächern Anatomie, Morphologie und Zoologie bis vor
Kurzem kaum machen – bis der Jenaer Professor Uwe Hoßfeld 2018 eine
einmalige Entdeckung in Sankt Petersburg machte. Eine Tagung der Akademie
der Wissenschaften führte Hoßfeld und seinen Kollegen Georgy S. Levit nach
Russland.
Ein Kollege dort, der von ihrem Interesse für die
[2][Wissenschaftsgeschichte] der Zoologie wusste, brachte sie zu einer
Ausstellung der russischen geografischen Gesellschaft. Bei dem Betrachten
der Stücke in den Vitrinen stutzte Hoßfeld, als ihn unvermutet ein Stück
Jena anguckte: Eine Zeichnung des Kollegienhofes, dem Gründungsort der
Jenaer Universität.
## Mikluchos Nachlass
Es handelt sich um den Nachlass des Forschungsreisenden Nikolai
Nikolajewitsch Miklucho-Maclay (1846–1888). Aus diesen Unterlagen bekommen
Hoßfeld und Levit die Mitschriften Mikluchos zu den Vorlesungen über
Zoologie von Ernst Haeckel und über die Menschliche Anatomie von Carl
Gegenbaur.
„Diese Mitschriften sind einzigartig“, erklärt Hoßfeld. „Weder in Jena …
weltweit gibt es bisher weitere.“ Und genau das mache es so spannend, zumal
es sich um zwei Fächer handelt, die von zwei Heroen unterrichtet wurden.
„Man sieht fast haargenau, was in den Vorlesungen gemacht worden ist“, hebt
Hoßfeld hervor. Natürlich gibt es einige überlieferte Lehrbücher aus der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber die lassen nur bedingt
Rückschlüsse auf die Didaktik und den Ablauf der damaligen Lehre zu. Die
Mitschriften sind hintereinander weggeschrieben und sehr detailgetreu.
Augenfällig und wirklich bemerkenswert sind die zahlreichen Zeichnungen,
die Miklucho in seine Mitschriften einbaut. Nahezu jede Seite zeigt
kunstvolle anatomische beziehungsweise zoologische Zeichnungen.
„Da konnten die Studenten oder die Lehrenden noch gut malen“, meint
Hoßfeld. Und dabei muss noch berücksichtigt werden, dass augenscheinlich
sowohl Haeckel und Gegenbaur als auch Miklucho sämtliche Zeichnungen aus
dem Stegreif anfertigten und nicht nachbearbeiteten. Es mag sein, dass es
für die Vorlesungen vereinzelt Rollbilder gab, die der Visualisierung
dienten, wenn bisher auch noch keine gefunden wurden. Hoßfeld geht
entsprechend davon aus, dass die Lehrenden die Zeichnungen im Augenblick
der Vorlesung an die Tafel brachten und die Studenten sie umgehend
abzeichnen mussten. „Eine Nachbearbeitung der Mitschriften würde man an
einer anderen Tinte oder einem anderen Stift erkennen“, erklärt Hoßfeld.
Vor 160 Jahren scheint auch für die Naturwissenschaftler ein zeichnerisches
Talent wichtig gewesen zu sein. Haeckel, Gegenbaur und Miklucho hatten es
zweifelsohne. Heute sieht das doch etwas anders aus. Hoßfeld gibt zu: „Ich
habe mein zeichnerisches Talent im Laufe der Jahre verloren. Ich hätte mir
das nie zugetraut.“
Es ist sicher ein Verlust, dass Studenten und Lehrende nicht mehr
künstlerisch unterwegs sind und für manch einen wohl eine Erleichterung,
obwohl es sicherlich auch eine Frage der Übung ist. Mit den heutigen
Methoden der Visualisierung ist es schlichtweg nicht mehr nötig, alles
selbst zu zeichnen. Doch im 19. Jahrhundert gab es nur vereinzelt
Lehrbücher, für diejenigen, die es sich leisten konnten, wenige Rollbilder
und auch sehr wenige Präparate. Zu der Zeit gerade mal drei menschliche
Embryonen in Leipzig und in Jena gar keine. „Visualisierung hat eine ganz
starke Rolle gespielt.“
Miklucho war mittellos, er konnte sich keine Bücher leisten und war darauf
angewiesen, mit dem Skript zu lernen. Dennoch: „Er ist ein bisschen ein
Hallodrie gewesen, der Miklucho“, schmunzelt Hoßfeld.
Die Aufarbeitung der Mitschriften sei eines der schwersten Projekte, das er
mit Kollegen und Kolleginnen betreut habe. Die Terminologie heute ist in
Teilen eine andere also vor 150 Jahren, vieles heißt heute anders. Außerdem
vermischte Miklucho die Sprachen, notierte mal etwas auf Deutsch, mal auf
Französisch oder Russisch. Hinzu kommen noch teils individuelle
Abkürzungen.
Um die Mitschriften auflösen und verständlich machen zu können, war einiges
an Fachkompetenz nötig. Für die Schriften zu Gegenbaur über die
vergleichende Anatomie stand Rosemarie Fröber, Prosektorin der Anatomie,
dem Projekt zur Seite. „Die Zoologiesachen haben wir uns zu viert, zu fünft
angeguckt. Immer wieder, Tausende Stunden“, beschreibt Hoßfeld den
Arbeitsaufwand, der sich gelohnt hat. Das Ergebnis erschien Anfang des
Jahres in Form zweier Bücher, in denen die Mitschriften nebst lesbarer
Übersetzung abgebildet sind, beim THK-Verlag. Tatsächlich folgt zeitnah ein
dritter Band mit den Mitschriften zu Haeckels Paläontologievorlesung.
Dabei findet sich auch in Haeckels Zoologievorlesung bereits der eine oder
andere Hinweis auf vergangene Lebewesen wie den Archaeopteryx. Denn der
Professor schweifte während seiner Vorlesung immer mal in die Botanik oder
Paläontologie ab. Das ist einer der Unterschiede und auch das
bemerkenswerte an den Vorlesungen von Haeckel und Gegenbaur. „Sie lesen
wirklich das ganze Fach.“ Dazu gehören neben dem eigentlichen Fachwissen
Wissenschaftsgeschichte, wissenschaftstheoretische Elemente und
Wissenschaftsphilosophie. Hoßfeld meint dazu: „Heute schaffen wir das bei
der Datenflut nicht mehr, die waren damals mit festen Beinen verankert in
ihrem Fach.“
Didaktisch ist wohl davon auszugehen, dass, obwohl die Studenten damals
sicherlich weniger abgelenkt waren und sich daher auf das Mitschreiben und
Zeichnen besser konzentrieren konnten, inhaltlich immer etwa gleich viel
hängen blieb. Hoßfeld verweist hier auf Untersuchungen, nach denen, egal ob
mit Lehrbuch, Schulbuch oder Tablet gelernt wurde, sich der erlernte Stoff
nicht ändert. Beim Zeichnen sieht Hoßfeld heute allerdings einen wirklichen
Mangel.
Neben den detailgetreuen Zeichnungen ist auch der schriftliche Teil der
Mitschriften sehr umfangreich. „Die Scorpionen nähern sich den Crustaceen.
Färbung der Haut unansehnlich.“ Stilistisch könnte sich dieser Satz
Mikluchos in einer studentischen Mitschrift von heute finden, die Wortwahl
hingegen weniger.
Manche Sätze wie „Peritoneum ist eine seröse Haut“, mögen in unseren Ohr…
heute nicht wissenschaftlich und zu wertend klingen. Doch es war eine
andere Zeit und mit der Wissenschaft selbst ändert sich auch ihre Sprache.
Nachdem Miklucho die Vorlesung 1865 bei Haeckel besucht hatte, arbeitete er
mit diesem zusammen, machte eine Forschungsreise zu den Kanaren mit.
Gegenüber Thomas Henry Huxley beschrieb Haeckel Miklucho als „talentvollen
jungen Russen aus Kiev“, der [3][Darwinist] sei. Doch trennten sich die
Wege der beiden früh.
Nach 1869/70 widmet Miklucho alle Bücher und Studien Gegenbaur. Aufgrund
der Beobachtungen von seiner Forschungsreise nach Papua-Neuguinea
widersprach er Haeckels System der Menschenarten und erklärte, die Papua
hätten eine eigene Sprache und Kultur und seien genauso Menschen wie die
Europäer und auf keiner niederen Stufe.
„Er war wissenschaftlicherseits der erste Antirassist“, sagt Hoßfeld.
Haeckel wollte dem offensichtlich nicht zustimmen, obwohl Miklucho nach
dessen Grundsatz handelte, Organismen möglichst in ihrem natürlichen
Lebensumfeld zu beobachten. „Er hatte ja keine Möglichkeiten. Eine Reise in
die Tropen dauerte ein halbes bis dreiviertel Jahr und nicht jeder ist
wiedergekommen“, verteidigt Hoßfeld Haeckel wissenschaftlicherseits, „nur
würde man heute sagen: Das, was nicht geht, einfach liegen lassen.“ Trotz
Haeckels bestehender Rassentheorie handele es sich wirklich um eine
ideologie- und weltanschauungsfreie Vorlesung, erklärt Hoßfeld: „Es ist
richtige spezielle Zoologie.“
Die Mitschriften Nikolai Nikolajewitsch Miklucho-Maclays sind ein Stück
Zeitgeschichte.
5 Jun 2022
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## AUTOREN
Charlotte Fuchs
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Wissenschaftsgeschichte
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