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# taz.de -- Pathologe mit fragwürdigen Vorstellungen: Virchow und die Rassenku…
> Im Virchow-Jahr 2021 ist es Zeit für einen genaueren Blick auf den
> Berliner Pathologen – und dessen Rolle in der Konzeption des
> „Rasse“-Begriffs.
Bild: Arzt, Pathologe, vor 200 Jahren geboren: Virchow-Denkmal am Karlplatz in …
Was bleibt von Rudolf Virchow? Zum 200. Geburtstag des Zellularpathologen,
Sozialreformers, Märzrevolutionärs, Kulturkämpfers, Bismarck-Antipoden,
Altertumswissenschaftlers, Prosektors, Ethnologen, Anthropologen,
Journalisten und liberalen Politikers gibt es viele Antworten auf diese
Frage.
Der Berliner Historiker Constantin Goschler hat herausgearbeitet, wie
perfekt Virchow sich als Verfechter einer unabhängigen „liberalen Wahrheit“
inszenierte. Im seuchengeschüttelten Jahr 2021 ist ein durch einen
„naturwissenschaftlich exakten Habitus“ geprägter Denkstil gefragt.
Demzufolge gibt es im Virchow-Jahr 2021, wie anlässlich seiner
vorangegangenen runden Geburts- und Todestage, neuen Anlass für allgemeine
Virchow-Seligkeit. Doch eine der vielen Antworten auf die Frage, was von
Virchow blieb, lautet: Rassenkunde.
Wie kann das sein? Virchow gilt als Gegner der kaiserlichen
Kolonialpolitik. Sein mutiger Einsatz gegen antisemitische Agitation war
legendär. „Bisher hat man noch keine Professur des Antisemitismus
gefordert, aber es wird erzählt, daß es schon antisemitische Professoren
gäbe“, spottete er in einer Rektoratsrede der Berliner Universität. Zu
deren Lehrkörper gehörte der für seinen Ausspruch „Die Juden sind unser
Unglück“ berüchtigte Historiker Heinrich von Treitschke, gegen den Virchow
sich gemeinsam mit dem Theodor Mommsen im Antisemitismusstreit stellt.
Früh warnte Virchow vor der Bedrohung, die von dem Bemühen ausging, Juden
zu einer „Rasse“ zu erklären. Die Reaktionen seiner Gegner blieben nicht
aus. Leidenschaftlich bezogen Antisemiten ihn in ihren Hass mit ein.
Die unmittelbar gegen Virchow gerichteten Anschuldigungen finden sich in
Agitationsheftchen gegen „jüdische Weltherrschaft“, in den antisemitischen
Parlamentsreden Adolf Stöckers – über dessen Wortwechsel mit Virchow sogar
die New York Times berichtete – und in Houston Steward Chamberlains
„Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, der ideologisch wirkungsvollsten
Propagandaschrift des Rassenantisemitismus. Die Hetze wirkte lange nach.
Noch vier Jahrzehnte nach seinem Tod war der Berliner Pathologe Objekt
nationalsozialistischer Schmähpropaganda.
Das bekannteste Beispiel ist der Film „Robert Koch, der Bekämpfer des
Todes“ (Kinostart: September 1939). Darin wird der Bakteriologe Koch zum
heroischen Kämpfer stilisiert, dessen neue Lehre das alte System der
Zellularpathologie ablöst. Der greise Werner Kraus verkörperte Virchow als
negative Allegorie auf eine zugrunde gegangene parlamentarische Demokratie.
In den USA benannte sich 1941 die Deutsche Medizinische Gesellschaft in
Virchow-Society um – was die Nationalsozialisten ebenfalls
propagandistisch ausschlachteten.
## Virchow-Bild in der BRD und DDR
Umso positiver war das Virchow-Bild in der jungen Bundesrepublik und auch
der DDR. In dem 1948 noch zu SBZ-Zeiten gedrehten Defa-Film „Der kleine
Doktor“ ist Virchow ganz 1848er Revolutionär.
1968 veröffentlichte der Medizinhistoriker Werner Kümmel einen Aufsatz mit
dem Titel „Virchow und der Antisemitismus“, der nahelegte, Virchow
differenziert zu betrachten. Die beiden folgenden Zitate stammen aus seinem
Aufsatz. Kümmel rief in Erinnerung, dass sich jüdische Wissenschaftler über
die Behinderung ihrer Karrieren durch Virchow beschwert hatten.
Den „Vorwurf der Judenfeindschaft“, den mehrere Zeitungen ihm daraufhin
machten, wies Virchow 1879 in einer Stellungnahme zurück, doch Teil seiner
Entgegnung befremden: „Ich leugne es ja nicht, daß unter den Juden sehr
ausgezeichnete Männer sind, und ich will sogar zugestehen, daß
verhältnismäßig viele darunter sind. Aber nicht jeder Jude hat deshalb das
Zeug zu einem Spinoza. […] Der Familien- und Stammesstolz führt leicht zur
Oberhebung und zur Ungerechtigkeit. Ich verstehe das, aber ich liebe es
nicht“, schrieb Virchow.
Ein Redebeitrag Virchows aus einer Parlamentsdebatte mit dem
antisemitischen Hofprediger Stöcker zeigt auf, in welchen Grenzen sich
Virchows Argumente bewegten: „Die Juden sind einmal da; kein Mensch wird in
der Lage sein, sie zu vertreiben. Sie können sie nicht todtschlagen, wie
das im Mittelalter geschah; Sie können sie nicht nach Polen verschicken,
weil man sie da nicht aufnehmen würde; – Sie müssen sie also behalten. Wenn
wir sie aber behalten müssen, dann haben wir in der That alle ein großes
Interesse daran, sie uns in ihrer ganzen Bildung, in ihren Anschauungen, in
ihrem Innern, wie in ihren Handlungen, uns so nahe zu bringen, als wir
können.“
Den Rassenantisemitismus lehnte Virchow ab, Ressentiments gegen Juden
offensichtlich nicht. Er scheute sich nicht, sie im Kampf um dem Berliner
Lehrstuhl für Pathologische Anatomie zu bedienen, wie Heinz-Peter
Schmiedebach in seiner Biografie über Robert Remak, Deutschlands ersten
jüdischen Privatdozenten, nachwies.
## Bild einer jüdischen Phalanx
Als Virchow fürchtete, Remak könne statt seiner den Ruf nach Berlin
erhalten, verstieg er sich in die Behauptung, Alexander von Humboldt werde
Remak wegen seines Glaubens bevorzugen und konstruierte, wie Schmiedebach
resümiert, „das Bild einer philosemitischen und jüdischen Phalanx, die man
durch geschicktes Taktieren von innen her aufzubrechen habe“.
Virchow konzipierte eine Studie über die anthropologischen Merkmale
deutscher Schulkinder, in der die Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben mit
erhoben wurde. Immerhin sah er durch die Ergebnisse das Gerede von einer
jüdischen Rasse widerlegt.
Vor über 20 Jahren hat der Berliner Neurologe Pascal Grosse in seinem Buch
„Kolonialismus, Eugenik und Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland“
Virchows Rolle für die Konzeption des Rassenbegriffs erstmals
hervorgehoben. Nach seinem Erscheinen zunächst der kolonialen Amnesie
anheimgefallen, gilt Grosses Buch inzwischen als Grundlagenwerk einer
Wissenschaftsgeschichte mit postkolonialem Anspruch.
Virchow beförderte die wissenschaftliche Etablierung der Rassenkunde ebenso
wie ihre Popularisierung. In allgemeinverständlichen Vorträgen dozierte er
über „die schwarze Hautfarbe und die aufgeworfenen großen Lippen, welche
für den Negertypus so charakteristisch sind“. Maßgeblich propagierte
Virchow „rassenspezifische“ Eigenschaften seien unabänderlich. Eine
„Acclimatisation“, eine Gewöhnung an europäische Witterungsverhältnisse,
sei schwarzen Menschen daher nicht möglich. Ebenso wie die dauerhafte
Besiedelung Subsaharaafrikas durch weiße Kolonisten zu weiblicher
Unfruchtbarkeit führe.
„Rasse“ verknüpfte Virchow mit Raum. Dass er die Errichtung weißer Koloni…
in Afrika ablehnte – und in Südamerika aufgrund ihm geeignet erscheinender
klimatischer Bedingungen befürwortete –, hinderte ihn nicht daran, die
koloniale Expansion des Kaiserreichs wissenschaftlich zu begleiten.
Skelett- und Schädelmessungen bildeten für ihn die unabdingbare Grundlage
der Forschung. Statistisch valide Merkmalsmessungen gestand er nur Kohorten
von jeweils 1.000 Schädeln zu. Medizinische Sammlungen füllten sich mit
Schädeln, die fortan der Konzeption rassenanthropologischer Paradigen
dienten.
Wer nachlesen möchte, wie sehr sich Virchow für die neue Disziplin
Rassenkunde engagierte, muss in den Sitzungsprotokollen der Berliner
Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte blättern.
Wann immer der [1][Altonaer Schausteller Carl Hagenbeck] auf seine
Bestellung neue Schädel lieferte – „Hr. Hagenbeck hatte bei Gelegenheit der
Zusammenstellung dieser Expedition durch seine Agenten den Wunsch von mir
in Ausführung gebracht, Wedda-Schädel sammeln zu lassen“ –, stelle Virchow
seine Messungen öffentlich vor. Im Januar 1885 lud Virchow „die Mitglieder
der anthropologischen Gesellschaft mit ihren Damen“ in Castans Panoptikum
ein, um in Berlins bekanntestem Wachsfigurenkabinett unter dem Titel
„Vorstellung von Zulu-Kaffern“ lebende Menschen vorzuführen. Zwischen
Völkerschau und akademischer Wissenschaft gab es keine Grenzen.
Auch Kinder waren willkommenes Untersuchungsmaterial. Mit den Worten „Ende
Juli langte im zoologischen Garten eine grössere Thierkarawane des Hrn.
Hagenbeck an, welcher als Begleiter eine Anzahl junger Schwarzer beigegeben
war“ beginnt eine Studie, im Zuge derer Gesichtswinkel von 14-Jährigen
vermessen, das Colorit von Haut und Haaren protokolliert und der Zahnstatus
erhoben wurde. „Hr. Hagenbeck willigte ein, von den besonders
charakteristischen Personen einige Gypsabgüsse des Gesichts, der Hände und
Füsse anfertigen zu lassen“, bedankte sich Virchow.
24 Apr 2021
## LINKS
[1] /Ausstellung-Linvention-du-sauvage/!5094719
## AUTOREN
Philipp Osten
## TAGS
Medizin
Deutscher Kolonialismus
Pathologie
Schwerpunkt Rassismus
Strahlung
Museum
Antisemitismus
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