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# taz.de -- Ausstellung „L'invention du sauvage“: Wer ist Ihr Wilder?
> Zur Zeit der großen Völkerschauen Ende des 19. Jahrhunderts standen sich
> Menagerie und Anthropologie näher als es die Wissenschaft wahrhaben will.
Bild: Anatomisches Modell der Botoduco-Männer in der Ausstellung „Exhibitio…
Niemand hat am Anfang des 20. Jahrhunderts vom „global village“ gesprochen.
Und doch konnte man im Tierpark Hagenbeck in Hamburg seinerzeit bereits
eine gute Vorstellung davon gewinnen, was künftig einmal damit bezeichnet
werden sollte. Seit 1900 gehörte die Inselgruppe von West-Samoa als
Kolonialbesitz zum Deutschen Reich.
Und nur wenig später kündigte der Hamburger Tierpark an, neben den Gehegen
für Löwen und Giraffen auch eine Gruppe „unserer neuen Landsleute“ zu
präsentieren. Es hat sich inzwischen herumgesprochen, wie unproblematisch
es tatsächlich noch bis zu den 1920er Jahre gewesen ist, in zoologischen
Gärten nicht allein Tiere, sondern auch Menschen als Objekt der Schaulust
auszustellen.
Vielleicht muss aber gerade deshalb erstaunen, dass Hagenbecks Plakat die
aus Samoa angereisten Fremden nicht einzig als eine weitere exotische
Attraktion angekündigte, sondern vielmehr deutlich aussprach, was sie
tatsächlich waren: wenn schon nicht Bürger, so doch immerhin Angehörige des
Deutschen Reichs. Ob nun gewollt oder nicht: Mit jeder neuen Kolonie wurden
die Fremden ein wenig weniger fremd und rückte das andere Ende der Welt
näher an Europa heran.
## Weltausstellung Paris 1889
Wie verschlungen diese sich um die ganze Welt spannenden
Beziehungsgeflechte seit der frühen Moderne tatsächlich gewesen sind,
stellt auf eindrucksvolle Weise eine Ausstellung vor Augen, die zur Zeit im
Musée du quai Branly in Paris zu sehen ist. Nur wenige Schritte vom
Eiffelturm entfernt, ist dieses Museum zugleich in doppeltem Sinn der
ideale Ort für eine solche Ausstellung. Zum einen ist dieses Haus der Stein
gewordene Ausdruck, dass es am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr
genügt, im Museum exklusiv die westliche Kunst- und Kulturgeschichte zu
feiern.
Dass die hierzu formulierte Antithese am quai Branly indes ganz und gar
europäischen Vorstellungen von den „Arts premiers“ folgt, steht wiederum
auf einem anderen Blatt. Zum Zweiten aber errichtete Jean Nouvel vor sechs
Jahren seinen Museumsneubau gerade an jenem Ort, der 1889 Teil der Pariser
„Exposition universelle“ war, die als ein großes, sechs Monate dauerndes
Volksfest in die Geschichte der Weltausstellungen eingehen sollte.
Wie sehr dieses Volksfest tatsächlich aber ein Fest vieler Völker war,
zeigt die Pariser Ausstellung „Exhibitions. L’invention du sauvage“. Die
von Frankreich rund um den nagelneuen Eiffelturm inszenierte
Jahrhundertfeier der Französischen Revolution hatte die Absage der meisten
europäischen Staaten zur Folge – beinahe alle waren ja noch Monarchien.
Umso mehr Platz war daher frei für Pavillons aus Vietnam, Marokko oder
Mexiko.
Und mit ihnen zogen hunderte exotischer Fremder in die Stadt, deren Aufgabe
es war, das eigene Leben in folkloristischer Abkürzung an der Seine einen
Sommer lang zur Aufführung zu bringen. Exotismus als Anlass der Belustigung
und des Vergnügens – der erste Teil der Ausstellung am Quai Branly
entfaltet in aller Ausführlichkeit, wie tief eine solche Idee tatsächlich
in der europäischen Geschichte wurzelt. Bereits Kolumbus hatte nicht
vergessen, auf seiner Fahrt zurück von Amerika sechs „Indianer“
mitzubringen, um sie am spanischen Hof als stumme Zeugen einer wirklich
spektakulären Nachricht vorführen zu können.
## Die Venus geht in die Geschichte ein
Seither kam kaum ein europäischer Hof von einiger Größe ohne das
staunenswert Fremde in seinen eigenen Kreisen aus. Und bereits lange vor
Einrichtung der Anthropologie als einer wissenschaftlichen Disziplin konnte
man um 1810 für mehr als fünf Jahre in London und Paris die aus Südafrika
stammende Saartje Baartman bestaunen, die aufgrund ihrer bemerkenswerten
Körperfülle wie eine Attraktion herumgereicht wurde und als
„Hottentotten-Venus“ in die Geschichte einging.
Doch ist es kein kleiner Bruch, der sich zwischen diesem kollektiven
Voyeurismus vom Beginn des 19. Jahrhunderts und der Pariser Weltausstellung
von 1889 ereignete: Die abnorme Ausnahme ist in moderner Zeit nur noch am
Rand von Interesse.
## Das vermeintlich Typische
Zum spektakulären Ereignis gerät die Menschenschau in neuerer Zeit gerade
dann, wenn sie das vermeintlich Typische möglichst anschaulich vor Augen
stellen kann. Besonders erfolgreich hat William F. Cody, besser bekannt als
Buffalo Bill, hieraus ein ganzes Geschäftsprinzip gemacht: Die Wirkung
seiner Wild-West-Shows auf das Bild vom „Indianer“ und dessen Verhältnis
zur westlichen Zivilisation dürfte sich kaum überschätzen lassen. Und
natürlich war Buffalo Bills Show auch 1889 in Paris mit von der Partie.
Die Ausstellung im Musée du quai Branly ist eine begehbare Studie geworden
über die Herausbildung westlicher Klischees gegenüber dem Fremden. Diese
waren stets beides zugleich: Anlass zum Staunen und zum Gruseln, zur
Neugier und zur Furcht. Immerhin aber war das Spektakel der Unterschiede
attraktiv genug, um in Form von Wanderausstellungen und Varieté-Shows auch
über den Tag hinaus für mehrere Jahrzehnte sein Publikum zu finden.
Carl Hagenbecks Tierpark in Hamburg stand hier Modell: Shows wie die
„Wilden Weiber aus Dahomey“ inszenierten nicht einfach nur mit aufwändigen
Mitteln ein Bild vom unbekannten Anderen. Die Revue-Spektakel gaben
überhaupt erst den Anlass, ein Bild vom wilden Fremden zu erfinden und
gegenüber einem zahlenden Publikum durchzusetzen.
Wie entscheidend schließlich die Theaterbühne der Völkerschau für die
wissenschaftliche Beschäftigung mit den außereuropäischen Völkern für lange
Zeit geworden ist, wird in Paris leider nur all zu kurz angesprochen.
Menagerie und Anthropologie standen sich jedenfalls viel näher, als die um
Wissenschaftlichkeit bemühten Völkerkunde um 1900 eingestanden haben würde.
## Der Sinn hinter den Klischees
Aber vielleicht ist ja gerade dies der eigentliche Sinn jedes Klischees:
sich als solches nicht ohne Weiteres zu erkennen zu geben, um hierdurch
umso größere Wirkung entfalten zu können. Es wird indes auch heute niemand
glauben könne, davon frei zu sein: Der französische Videokünstler Vincent
Elka verabschiedet jeden einzelnen Besucher ganz am Ende der Ausstellung
mit einer scheinbar einfachen Frage: „Qui est votre sauvage? – Wer ist Ihr
Wilder?“
Auf zwei großen Videoschirmen fragen dies Schwarze und Asiaten,
Rollstuhlfahrer und Blinde, Moslems, Obdachlose, Schwule und Lesben. Sie
alle erinnern daran, dass jede Zeit ihre eigenen Fremden erfindet.
4 May 2012
## AUTOREN
Steffen Siegel
## TAGS
Medizin
Schwerpunkt Rassismus
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