| # taz.de -- Ausstellung Sowjetische Arbeitslager: Der Schrecken des Unscheinbar… | |
| > Manche wurden inhaftiert, weil sie zu spät zur Arbeit kamen, andere, | |
| > obwohl sie nichts getan hatten. Eine kluge Ausstellung in Neuhardenberg | |
| > widmet sich dem System Gulag. | |
| Bild: Die Aufarbeitung der Gulag-Vergangenheit ist schwierig, da nur wenige Fot… | |
| NEUHARDENBERG taz | Der Metallschlitten ist klein, verrostet und verbogen, | |
| ein unscheinbares Objekt. Er wurde in Kolyma gefunden, im Nordosten | |
| Sibiriens, fast zehntausend Kilometer entfernt von Moskau. Es gab dort | |
| keine Wege oder Straßen, so die lakonische Erläuterung neben dem Exponat. | |
| Die Häftlinge in Kolyma gruben bei bis zu minus 50 Grad in Bergwerken nach | |
| Zinn und Uran, dafür brauchten sie diesen Schlitten. | |
| Es gibt nicht viele Dinge, die vom Archipel Gulag übrig geblieben sind, dem | |
| Lagersystem, in dem von 1929 bis 1956 zwanzig Millionen Menschen traktiert | |
| und zwei Millionen getötet wurden. Memorial, die russische | |
| Menschenrechtsgruppe, hat seit Ende der 80er Jahre gesammelt, was noch | |
| vorhanden war. Man sieht einen Blechtopf, ein Kleid in einer Vitrine, eine | |
| Lampe, die aus Konservendosen gebastelt wurde. | |
| Ein paar zerfetzte Schuhe, notdürftig mit Aluminiumnägeln geflickt, gegen | |
| die Kälte. Die Alltagsdinge geben das Grauen, das sie bezeichnen, nicht | |
| her. Wir müssen unsere Fantasie bemühen, um diese Dinge zu lesen und zu | |
| entschlüsseln. Es sind Überreste eines Verbrechens, das unsere | |
| Vorstellungskraft an die Grenze treibt. Auch deshalb sind diese Dinge | |
| berührend, gerade in ihrer Unscheinbarkeit. Sie weisen auch auf eine | |
| Auslöschung hin, das Verschwinden der Erinnerung an den Gulag. | |
| Am Beginn der Ausstellung steht ein Modell. Ein Turm aus kubischen Formen, | |
| eine geometrische Konstruktion aus Stahl und Glas. Dieses 1919 von Wladimir | |
| Tatlin entworfene und nie gebaute „Monument der Dritten Internationale“ | |
| sollte 400 Meter hoch sein, ein Symbol des kommunistischen Traums. Es ist | |
| Sinnbild einer Ordnungsfantasie, die etwas Monströses hat, aber auch noch | |
| fragil, unfertig wirkt. Dahinter ist ein am Boden liegendes Arrangement | |
| zerbrochener Pfeiler ausgestellt, scheinbar Überreste von Tatlins | |
| Konstruktion. Darauf sind einige Exponate aus den Lagern zu sehen, eine | |
| kleine, halb vermoderte Holzschubkarre, eine Holzpritsche. Vorn der | |
| utopische, in den Himmel strebende Gesellschaftsentwurf, dahinter dessen | |
| Nachtseite, der Gulag. Diese Lesart der stalinistischen Terrors ist nicht | |
| neu, falsch ist sie auch nicht. | |
| ## Vernichtung durch Arbeit | |
| Die Ausstellung, verantwortet von Volkhard Knigge, dem Direktor der | |
| Gedenkstätte Buchenwald, und von Irina Scherbakowa, die für Memorial in | |
| Moskau arbeitet, hat einen distanzierten, zurückgenommenen Ton. Sachlich | |
| und kühl wird die Chronologie des Gulag dargelegt. Der Bogen reicht von den | |
| frühen 20er Jahren bis zu den heutigen, mühsamen Versuchen, die Erinnerung | |
| an den Gulag in Putins Russland zu bewahren. 1923 entstand in Solowezk, am | |
| Weißen Meer, der Prototyp der Lager: Die Häftlinge mussten unter | |
| miserablen, lebensfeindlichen Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Die Grenze | |
| zwischen Sklavenarbeit und der faktischen Vernichtung durch Arbeit war | |
| stets schmal. Nach Stalins Tod 1953 wurden die Lager zögernd aufgelöst. | |
| 1954 gab es gewaltsam niedergeschlagene Aufstände im Gulag, in Norilsk und | |
| Workuta. | |
| Der Gulag war eine Art UdSSR in klein, er war, metaphorisch und konkret, | |
| ein Spiegel des Imperiums. Die Häftlinge waren ein Abbild der sowjetischen | |
| Gesellschaft. Es gab im Lager alle Nationalitäten und Schichten, Arbeiter | |
| und stalintreue Generäle der Roten Armee, Kinder, Kommunisten, Bauern. | |
| Manche kamen ins Lager, weil sie 20 Minuten zu spät zur Arbeit gekommen | |
| waren, viele ohne Begründung. Vor allem war das Gulag-System ein Spiegel | |
| der Planwirtschaft. Die Planvorgaben waren auch für die Lager immer zu | |
| hoch, die Produktionsergebnisse wurden stets gefälscht. Die | |
| Produktionstriumphe standen nur auf dem Papier, es entstand eine Ökonomie | |
| des Scheins. | |
| Für Häftlinge bedeutete dieses System oft den Hungertod. Verfehlten sie die | |
| unerreichbare Norm, bekamen sie weniger zu essen. Sie wurden noch | |
| schwächer, leisteten weniger, bekamen noch weniger zu essen. Wie eng | |
| Massenmord und Planwirtschaft verzahnt waren, illustriert blitzlichtartig | |
| ein Stalin-Befehl von 1938. Dort verfügte Stalin, wie viele Volksfeinde die | |
| Provinzen zu liefern hatten. In Irkutsk 3.000 töten, 500 ins Lager, in Omsk | |
| 3.000 töten, 2.000 ins Lager, ist auf einem von Stalin handschriftlich | |
| redigierten Blatt zu lesen: „Terror als Travestie der Planwirtschaft. | |
| Der Gulag ist ein Verbrechen fast ohne Bilder. Ein 1989 aufgenommenes Foto | |
| zeigt Knochen in einem Massengrab im Ural. Auf einer kleinen | |
| Bleistiftskizze, angefertigt von einem Häftling 1953, sieht man, wie ein | |
| Grab ausgehoben wird. Das sind zwei der wenigen Exponate, die Tod zeigen. | |
| Zwei Millionen Tote, aber kaum optische Zeugnisse. Der Holocaust ist im | |
| kollektiven Gedächtnis mit einer Art Ikonografie assoziiert. Wir kennen die | |
| längst zu Stereotypen geronnenen Bilder, die die Befreier in Bergen-Belsen | |
| machten. Filmische Dokumente aus Kolyma oder Norilsk existieren nicht. Auch | |
| deshalb ist Bergen-Belsen Teil des kollektiven europäischen Gedächtnisses | |
| geworden, Norilsk Terra incognita geblieben. | |
| ## Terra incognita | |
| Die wenigen Fotos, die es aus dem Gulag gibt, sehen wir ganz unwillkürlich | |
| auf der Folie der KZ-Bilder. Eine Fotografie zeigt eine Besserungsanstalt | |
| für Jugendliche 1945. Man sieht Pritschenbetten, kahlgeschorene Köpfe. Man | |
| vergleicht diese Aufnahme spontan mit KZ-Aufnahmen, sucht Ähnlichkeit und | |
| Unterschied. Die Gulag-Bilder haben in unserem Blick kaum eigenes Gewicht. | |
| Weil es verführerisch und einfach ist, im Unbekannten das Bekannte zu | |
| suchen. | |
| „GULAG, Spuren und Zeugnisse 1929–1956“ ist eine kluge, präzise, notwend… | |
| Ausstellung. Es ist die erste über das Lagersystem in Deutschland, die | |
| dritte weltweit. Sie ist in Schloss Neuhardenberg zu sehen, eineinhalb | |
| Autostunden östlich von Berlin. Warum nicht in Hamburg, Berlin, München? | |
| 2 May 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
| ## TAGS | |
| Russland | |
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