| # taz.de -- Journalist über seine Familiengeschichte: „Der Stalinismus sitzt… | |
| > Vor 60 Jahren sarb Stalin. Sergej Lochthofen über seinen Vater, der als | |
| > deutscher Kommunist in sowjetische Verbannung kam – und in der DDR | |
| > Karriere machte. | |
| Bild: Sergej Lochthofen hat seine Kindheit im russischen Gulag verbracht. | |
| taz: Herr Lochthofen, Sie verbrachten Ihre ersten fünf Lebensjahre in dem | |
| berüchtigten sowjetischen Arbeitslager Workuta, wo Ihr Vater in der | |
| Verbannung lebte. Das klingt nicht nach glücklicher Kindheit. | |
| Sergej Lochthofen: Das widerspricht allen Vorstellungen vom Gulag, aber ich | |
| hatte eine glückliche Kindheit. Wir lebten in einem schmalen Streifen | |
| zwischen Fluss und Lagerzaun. Am Ende des Hofs war ein Wachturm. Wenn man | |
| in diese Verhältnisse hineingeboren wird, empfindet man sie als normal. Das | |
| ändert natürlich nichts am Schrecken im Lager. Wir begegneten | |
| Häftlingskolonnen. In den 50ern waren dort Hunderttausende Strafgefangene | |
| interniert, viele wurden umgebracht, das bekamen wir Kinder mit. | |
| Bevor Ihr Vater Lorenz Lochthofen in die Sowjetunion flüchtete, hat er | |
| Anfang der 30er Jahre im Ruhrgebiet gegen die Nazis gekämpft? | |
| Heute heißt es oft, die Nazis seien 1933 plötzlich an die Macht gekommen. | |
| Aber in vielen Regionen saßen schon Innenminister und Polizeipräsidenten, | |
| die mit den Nazis kooperierten oder selbst welche waren. Auch in | |
| Nordrhein-Westfalen waren die Behörden so naziverseucht, dass jemand, der | |
| sich gegen die SA stellte, keine Chance hatte. Man suchte meinen Vater. | |
| Deshalb ging er illegal nach Russland. | |
| Die Sowjetunion wurde für Ihren Vater schnell zum Albtraum. Wie ist er als | |
| deutscher Kommunist und Antifaschist im Gulag gelandet? | |
| Ich würde sagen, wer ein Kommunist war, ist zwangsläufig im Gulag gelandet. | |
| In Russland und im Westen glaubt man bis heute, dass alles, was Stalin tat, | |
| Kommunismus gewesen sei. Aber Stalinismus ist etwas ganz anderes. | |
| Was geschah mit Kommunisten wie Ihrem Vater? | |
| Jeder, der nicht im Chor mitsang, war Repressionen ausgesetzt. Mitte der | |
| 30er waren fast alle Bolschewiki umgebracht worden, weil sie Stalins | |
| engster Machtclique im Weg standen. Mein Großvater wurde als Mitglied der | |
| Arbeiteropposition bereits 1928 verbannt. Und mein Vater fiel schon auf, | |
| weil er Deutscher war. Ein Mensch mit Anstand konnte es kaum vermeiden, im | |
| Lager zu enden. | |
| Sie beschreiben, wie Ihr Vater die Freunde in Deutschland darum beneidete, | |
| zu wissen, wo der Feind steht. Wie war das, ausgerechnet von den Genossen | |
| verraten zu werden? | |
| Für ihn stand außer Frage, dass der Stalinismus eine Entgleisung war. | |
| Dennoch blieb die Sowjetunion der Gegenentwurf zum faschistischen | |
| Deutschland. Umso tragischer war es, die Zukunft dort zu sehen, wo einen | |
| die „Eigenen“ ins Lager sperrten. Für Antifaschisten war die | |
| Auseinandersetzung mit den Nazis konsequent. Aber in der Sowjetunion wurde | |
| ihnen in den Rücken geschossen. Das war bitter. | |
| Ihr Vater hat im Jahr 1947 Wilhelm Pieck gebeten, ihm die Ausreise zu | |
| ermöglichen. Aber die DDR-Oberen haben ihn ignoriert. | |
| Nachdem er die offizielle Lagerhaft hinter sich hatte und die Verbannung | |
| begann, hoffte er, freizukommen. Andere gingen nach Deutschland, aber mein | |
| Vater musste bleiben. Das hat ihn sehr verbittert. Es dauerte noch einmal | |
| elf Jahre, bis 1958, ehe wir ausreisen konnten. Dass mein Vater Russland | |
| verlassen durfte, hat er dem – wie er immer sagte – Antikommunisten | |
| Adenauer zu verdanken. Die Eigenen hatten ihm nicht geholfen. | |
| Warum wollte Ihr Vater nach 21 Jahren Verbannung unbedingt in die DDR, den | |
| nächsten sozialistischen Staat? | |
| Mein Vater war ein romantischer Mensch, und Revolution und Romantik liegen | |
| nah beieinander. Er war tief davon überzeugt, dass Russland nie das Land | |
| hätte sein dürfen, das von der Spitze her diese Entwicklung vorantreibt, | |
| weil das Land unterentwickelt blieb. Er hoffte, dass die Deutschen es | |
| besser machen. | |
| Wurde er wieder enttäuscht? | |
| Es war für ihn sehr verletzend, dass er in Ostberlin nicht willkommen war. | |
| Und das, obwohl ihn einige aus den 30ern kannten. Als ehemaliger | |
| Lagerinsasse wollte man mit ihm eigentlich nichts zu tun haben. Er selbst | |
| war voller Enthusiasmus und sehr enttäuscht, als das Ganze erstarrte und | |
| immer grauer wurde. | |
| Wie war es für Sie als russisches Kind, in den Ostteil des Landes der | |
| Nazitäter überzusiedeln? | |
| In Russland war Deutschland das Land, das großes Unglück gebracht hatte. | |
| Freiwillig Deutscher zu werden, war also nicht gut. Aber Kinder sind robust | |
| und nach einem halben Jahr in Gotha konnte ich deutsch. | |
| Hat Ihr Vater in der DDR offen über die Lagerhaft gesprochen? | |
| Ja, er war ein sehr mutiger Mann. Er hatte in der DDR einen geradezu | |
| kometenhaften Aufstieg, ganz ungewöhnlich, angefangen mit einer Stellung | |
| als einfacher Schlosser in der Provinz, war dann Leiter eines der größten | |
| Betriebe der DDR und wurde als einziger Gulag-Häftling ins ZK berufen. Das | |
| hätte natürlich auch schiefgehen können. | |
| In den vergangenen Jahren haben einige Kindern deutscher Gulag-Häftlinge | |
| Zeugnis über die Geschichte Ihrer Väter abgelegt: Eugen Ruge in „In Zeiten | |
| des abnehmenden Lichts“ und viele andere, auch Ihr Bruder Pawel in Loretta | |
| Walz’ Dokumentation „Im Schatten des Gulags“. Warum erst jetzt? | |
| In Russland gab es in der Zeit von Glasnost eine ausgeprägte | |
| Lagerliteratur, aber in der DDR blieb das Thema tabuisiert. Da war es | |
| aufregend genug, Solschenizyn im Regal zu haben. Die heutigen Bücher wären | |
| in den 90er Jahren kaum erschienen. Nach solch revolutionären Umbrüchen | |
| wird erst mal nach einem groben Schwarz-Weiß-Raster sortiert. Nun gibt es | |
| Interesse an differenzierteren Betrachtungen. | |
| Anders als Ihr Vater haben viele Gulag-Häftlinge ihre Geschichte | |
| verschwiegen. Warum? | |
| Ganz einfach: aus Angst. Viele, die in Workuta waren, haben zu Hause bis | |
| zur Wende kein Wort gesagt. Auf einer Lesung erklärte mir ein Mann, er sei | |
| drei Jahre im Lager gewesen und habe seinen Kindern nichts erzählt. Zum | |
| einen hieß es bei der Entlassung: Wenn du etwas sagst, bist du wieder dran. | |
| Zum anderen wusste man nicht, was die Kinder ausplaudern. Ich erinnere mich | |
| an eine Situation in der siebten Klasse, da ging es um die Revolution. Ich | |
| habe mich gemeldet und gesagt: Mein Großvater hat mit Trotzki Tee | |
| getrunken. Da wurde es ganz still. Künftig habe ich zu Trotzki geschwiegen. | |
| Ihr Buch beschreibt das System von Willkür und Denunziation aus der Sicht | |
| der Betroffenen, locker und im Plauderton. Warum so zurückhaltend? | |
| Es gibt gute Bücher, die anhand von Archivmaterial detailliert berichten. | |
| Ich wollte die Geschichte auch für Menschen schreiben, die weit weg sind | |
| von einem Thema, das sie trotzdem angeht. Nehmen Sie Russland, da sind | |
| gerade zwei Frauen ins Straflager gekommen, nur weil sie etwas schrill in | |
| der Kirche gesungen haben. In einem anderen Land wäre das eine | |
| Ordnungswidrigkeit gewesen … | |
| … aber die Bevölkerung wünschte sich härtere Strafen. | |
| Ja. Das zeigt, wie tief der Stalinismus noch sitzt. Nicht nur dort. | |
| Zuletzt sind viele Bücher zum stalinistischen Terror herausgekommen, deren | |
| Einseitigkeit zum Teil kritisiert wurde – Jörg Barberowskis „Verbrannte | |
| Erde“ oder Timothy Snyders „Bloodlands“. Verharmlost man die | |
| Vernichtungspolitik der Nazis, wenn man nur von Stalins Verbrechen spricht? | |
| Nur wenn man die Dinge holzschnittartig sieht. Menschen, die in Workuta | |
| ermordet wurden, sind genauso tot, wie Menschen, die in Buchenwald starben. | |
| Wer sich mit den Grausamkeiten Stalins beschäftigt, hat auch immer das | |
| Wissen um die Vernichtung eines ganzen Volkes durch die Deutschen im | |
| Hinterkopf. Heute können die Leser das zusammenbringen, ohne dass sie ein | |
| Verbrechen durch das andere relativieren. Man muss leider davon ausgehen, | |
| dass durch den Stalin-Terror mehr Russen, Ukrainer, Kasachen oder Litauer | |
| umgekommen sind als durch die Wehrmacht. Das zu ignorieren, wäre zynisch. | |
| Es macht die deutschen Verbrechen nicht kleiner. | |
| Es heißt, die Kinder von Häftlingen hätten eine sehr symbiotische Beziehung | |
| zu ihren Vätern. Sie sind Journalist geworden, was Ihrem Vater verwehrt | |
| blieb, und die soziale Frage blieb für Sie wichtig. Wie stark hat Ihr Vater | |
| Sie geprägt? | |
| Angesichts all des Schreckens war es für mich bemerkenswert, dass er | |
| überhaupt überlebt hat und seine Zuversicht nie verlor. Ich fühlte mich | |
| immer sehr geborgen. Als Kind hat mich vor allem die Geschichte meines | |
| Großvaters fasziniert. Er war Kommissar in der Revolution und gehörte dann | |
| zur Opposition. Die Konsequenz waren 32 Jahre Lager und Gefängnis. Trotzdem | |
| hat er nie einen Zweifel daran gelassen, dass es wichtig ist, sich dafür | |
| einzusetzen, dass es nicht nur einigen wenigen gut geht. | |
| Dem sind Sie treu geblieben? | |
| Ich habe mich als Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen darum bemüht. In | |
| 20 Jahren habe ich keinen Mitarbeiter entlassen. Die Zeitungen im Osten | |
| haben sich mit sozialen Themen ohnehin mehr beschäftigen müssen als eine | |
| Zeitung am Rhein. Der Umbruch war ja nicht reine Freude, sondern kostete | |
| viele Schmerzen. Insofern würde ich sagen, dass ich geprägt bin. Es gibt | |
| Menschen, die der vorangegangenen Generation viel zu verdanken haben, aber | |
| keine Dankbarkeit verspüren. Ich hatte zwei anständige Leute in der Familie | |
| – das war für das 20. Jahrhundert sehr viel. Die meisten Deutschen haben | |
| bei den Nazis mitgemacht. Mein Vater nicht. | |
| 5 Mar 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Sonja Vogel | |
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