# taz.de -- Russische Historikerin über Führerkult: „Stalin ist eine Projek… | |
> Die Historikerin Irina Scherbakowa erklärt, warum Stalin heute in | |
> Russland wieder als starker Führer angesehen wird. Seine Verbrechen | |
> werden dabei verdrängt. | |
Bild: Geliebtes Väterchen: Kuss auf eine Stalinbüste. | |
taz: Frau Scherbakowa, gibt es in der russischen Gesellschaft eine | |
Stalin-Renaissance? | |
Irina Scherbakowa: Nicht generell. Die russische Gesellschaft ist in sich | |
ja tief gespalten. Das zeigt sich auch in den scharfen Kontroversen um | |
Stalin. Ein Teil der Gesellschaft verehrt Stalin wieder als Symbol für die | |
Sowjetunion, für einen starken Staat. | |
Was fasziniert 2012 denn an Stalin? | |
Man muss die Stalin-Verehrung historisch betrachten. Es gab sie schon in | |
der Breschnew-Zeit, als Stalin als vitales Gegenbild zu dem senilen | |
Politbüro entworfen wurde. Ein ähnlicher Effekt war in den 90er Jahren in | |
der Jelzin-Ära zu beobachten, als der Staat schwach war und viele die | |
Privatisierungswelle als Katastrophe erlebten. Ab Mitte der 90er wurde | |
Stalin wieder zur Projektionsfläche für die Wünsche nach dem starken Mann. | |
Das kann man auch als Nostalgieschub betrachten. | |
Wie sieht das Stalin-Bild unter Putin aus? | |
Putin inszenierte sich ja selbst von Anfang an als starken Führer. | |
Demokratie und Pressefreiheit spielen keine Rolle, dafür werden | |
Patriotismus und das Bild eines mächtigen Russland hochgehalten. Das wurde | |
in der Putin-Zeit mehr und mehr zum Geschichtsbild: Schluss mit der | |
Schwarzmalerei unserer Vergangenheit. Wir sollen das Positive in der | |
Historie sehen, das hat Putin so formuliert. Eine Schlüsselrolle spielt | |
daher der Sieg 1945, der Große Vaterländische Krieg. Und damit Stalin als | |
angeblicher Autor dieses Sieges. | |
Deshalb rücken die Verbrechen des Stalinismus in den Hintergrund? | |
Nicht nur in den Hintergrund. Sie werden verdrängt oder bis zur | |
Unkenntlichkeit relativiert. Aber der Stalin-Mythos speist sich heute auch | |
aus anderen Gründen – aus Unzufriedenheit mit der Gegenwart. Viele | |
empfinden es so: Die heutigen Machthaber tun nur so, als wären sie stark | |
und patriotisch. In Wirklichkeit sind sie korrupt, haben ihr Geld im | |
Ausland und schicken ihre Kinder auf Schulen in England. Stalin ist in | |
dieser Fantasie das Gegenbild zu dieser Elite: ein wahrer, schlichter, | |
bescheidener Volksführer. | |
Deshalb ist es so schwierig, die Verbrechen des Stalinismus anzuerkennen? | |
Der Hauptgrund ist: Es gibt bis jetzt kein Narrativ für den Stalinismus, | |
jedenfalls kein einfaches. Täter und Opfer sind im Stalinismus nicht leicht | |
zu unterscheiden. Täter wurden später oft selbst Opfer, und es kennzeichnet | |
das System, dass wirklich jeder und jede Opfer werden konnte. Alle waren in | |
gewisser Weise Teil des Systems. Es gibt Opfer, die im Gulag waren und | |
gläubige Anhänger dieses System blieben. | |
Es gibt also, anders als bei Verbrechen wie Genoziden, keine kollektive | |
Identität der Opfer. | |
Ja, genau. Nehmen sie zum Beispiel den berühmten Marshall Tuchatschewski. | |
Er schlug 1921 äußerst brutal Bauernaufstände und die Revolte in Kronstadt | |
nieder, wurde zur Nummer eins in der Roten Armee. 1937 ließ ihn Stalin im | |
Großen Terror hinrichten. Ist Tuchatschewski Opfer oder Täter? Beides. Was | |
ist mit den NKWD-Männern, die mordeten und folterten, ehe sie selbst | |
ermordet wurden? Ihre Familien, ihre Kinder und Enkel empfinden sie als | |
Opfer. In gewissem Sinn sind sie das auch – dass sie auch brutale Täter | |
waren, wird bis heute oft ausgeblendet. Es gab Hunderttausende, die in den | |
Versammlungen der Arbeitskollektive den Großen Terror bejahten und den Tod | |
sogenannter Volksfeinde forderten. Aus Angst, Anpassung, Überzeugung. | |
Es war eine System, das fast alle zu Unterstützern und potenziellen Opfern | |
machte? | |
Ja, sehr, sehr abgeschwächt gab es diese Konstellation auch in der DDR. | |
Auch dort fühlten sich viele gleichzeitig als Opfer des Systems, obwohl sie | |
teils aus Selbstschutz auch Beteiligte waren. Diese Diffusität wurde im | |
Stalinismus enorm durch die Heuchelei gesteigert, die es vielleicht so im | |
Nationalsozialismus nicht gab. Im NS-System gab es auch Lügen. Goebbels ist | |
zum Symbol dieser propagandistischen Lügen geworden. Aber jeder, der es | |
wissen wollte, wusste, was die Rassendoktrin der Nazis war. | |
In der Sowjetunion war der Terror hingegen von der monströsen Heuchlerei | |
verdeckt. Denn man huldigte ja der Solidarität, der Befreiung aller | |
Menschen, dem Internationalismus. Dieser Zwiespalt zwischen dem offiziellen | |
Ideal und dem nackten Terror findet sich ins Absurde gesteigert in den | |
Aussagen in den Moskauer Schauprozessen der 30er Jahre, in denen die Opfer | |
ihre eigene Vernichtung rechtfertigten. | |
Es existieren nur wenige Bilder von den stalinistischen Verbrechen. Was | |
bedeutet das für die kollektive Erinnerung? | |
Das ist ein schwieriges Problem. Wir haben uns heute daran gewöhnt, alles | |
zu visualisieren. Vor allem die Jüngeren brauchen Bilder, mehr als früher. | |
Das Literarische, mit dem ich groß geworden bin, hat an Bedeutung verloren. | |
Bücher haben für uns eine enorme Rolle gespielt. Ich habe 1974 | |
Solschenyzins „Archipel Gulag“ gelesen oder vielmehr verschlungen. Hinzu | |
kommt: In meiner Generation kannten viele Zeitzeugen oder Kinder von | |
Ermordeten oder Häftlingen. Diese direkte familiäre Erinnerung verschwindet | |
nach und nach. Allerdings gibt es ein interessantes Moment, das man in | |
Westeuropa wenig begreift … | |
Nämlich? | |
Es gibt in der familiären Erinnerungskultur in Russland eine mythisch | |
verformte Erinnerung an den Terror der Stalin-Zeit. Denn der Unterschied | |
zwischen dem Gulag und dem „normalen“ Leben war oft nicht so riesig. | |
Hunger, Kälte, Armut, Baracken waren auch typisch für das Leben in vielen | |
russischen Dörfern. Die Erinnerung an diese extreme Armut ist ein fester | |
Bestandteil der familiären Erinnerungskultur in Russland. In gewisser Weise | |
ist die Erinnerung an den Gulag darin aufgehoben. Sie schimmert, in | |
mythischer Form, in diesen Erinnerungen durch. | |
Typisch ist zum Beispiel die Erinnerung an einen Urgroßvater, der ein | |
wohlhabender Bauer war, und dann enteignet und verhaftet wurde. Oder man | |
erinnert sich an ein hartes, entbehrungsreiches Leben, an Unterdrückung und | |
Gewalt – und gleichzeitig sagt man, dass Stalin ein guter, weiser Führer | |
war. Das sind die Paradoxien des gespaltenen russischen und oft | |
patriarchalen historischen Bewusstseins. | |
Darin spiegelt sich die Täter-Opfer-Ambivalenz des Stalinismus wider. | |
Das ist der Schlüssel, auf den man immer wieder stößt. Nehmen sie zum | |
Beispiel Boris Jelzin. Dessen Vater wurde entkulakisiert, also enteignet, | |
verhaftet und in den Gulag gebracht. Jelzin machte trotzdem – oder sogar | |
umso hartnäckiger – eine Parteikarriere. Bei Gorbatschow war es ähnlich. | |
Dort wurde der Großvater inhaftiert. | |
Ist der Stalinkult 2012 durchweg ernst gemeint? Oder ist das auch Pop? | |
Ich würde nicht von Stalinkult reden. Laut Umfragen halten 30 Prozent | |
Stalin für eine große Figur der Geschichte. Aber nur ganz wenige, 3 | |
Prozent, würden gerne in dieser Zeit leben. Ja, das mediale Bild Stalins | |
ist auch Pop. Stalinismus assoziiert für viele das Blutige und Gruselige, | |
Action und das Böse. Dagegen erscheint ein ziviles, normales Leben doch | |
ziemlich fade. Davon lebt massiv das russische Fernsehen. Es gibt unzählige | |
russische TV-Serien, die in den 30ern spielen. Diese Serien sind nicht | |
unbedingt prostalinistisch, aber sie verkitschen und trivialisieren die | |
Vergangenheit. | |
Man sagt in Deutschland ja oft, dass die Dokumentationen von Guido Knopp | |
die NS-Zeit banalisieren. Stellen Sie sich also Guido Knopp im Quadrat und | |
als Fiktion vor – dann wissen Sie, wie die russischen Stalin-Serien | |
aussehen. Allerdings scheint heute im TV eine Art Stalin-Müdigkeit zu | |
herrschen. Der Reiz, ein Tabu zu brechen, ist verflogen. | |
Gibt es im Moskauer Stadtbild sichtbare Zeichen der Erinnerung an | |
Stalin-Opfer? | |
Sehr wenige. An Marschall Tuchatschewski erinnert eine Gedenktafel an dem | |
Haus, in dem er wohnte. Allerdings wird verschwiegen, warum er 1937 starb. | |
Das ist oft so. Die Häuser, in denen die Morde geplant und durchgeführt | |
wurden, sind kaum ausgeschildert. Wir, die Organisation Memorial, haben | |
lange dafür gekämpft, das Haus des Militärkollegiums des Obersten Gerichts, | |
wo mehr als 30.000 im Schnellverfahren zum Tode verurteilt wurden, zum | |
Museum zu machen. Man wollte daraus ein Einkaufszentrum machen. Es ist uns | |
gelungen, das Haus unter Denkmalschutz zu stellen. Doch einen | |
Erinnerungsort wie Topographie des Terrors in Berlin gibt es nicht. Der | |
Widerstand gegen alles, was an den Stalin-Terror erinnert, an Museen, | |
Mahnmale, Gedenksteine, ist massiv. Die Lubjanka, wo Tausende gefoltert und | |
ermordet wurden, ist nach wie vor Sitz des russischen Geheimdienstes FSB. | |
Ist das ein Zeichen, dass die Psychopathologie des Stalinismus bis in die | |
Gegenwart reicht? | |
Für einen Teil der Gesellschaft – ja. Stalin ist für viele noch immer | |
Symbol einer besseren Zeit. Einer Zeit, als der Westen vor dem sowjetischen | |
Imperium Angst hatte. Darin steckt ein tief sitzendes | |
Minderwertigkeitsgefühl. Das ist zum Teil eine pubertäre Rachefantasie, zum | |
Teil patriarchale Unterordnung unter den Herrscher, der es den anderen | |
gezeigt hat. Ich glaube allerdings, dass mit der Protestbewegung gegen | |
Putin etwas Neues begonnen hat. Weil der Reichtum so extrem ungerecht | |
verteilt ist, haben in Russland, wie auch in Westeuropa, linke Bewegungen | |
Zulauf. Das ist aber eine Linke, die mit Stalin nichts mehr am Hut. Das | |
zeigen auch Umfragen: Wer jung und gebildet ist, ist unempfänglich für ein | |
positives Stalinbild. Das ist unsere Hoffnung. | |
16 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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