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# taz.de -- Verfolgung in der Sowjetunion: Der große Volksfeind
> Als Stalin vor 60 Jahren starb, endete auch ein bis heute beispielloser
> Terror. Wieso stoppte die sowjetische Gewaltmaschine?
Bild: Schließlich hat auch Er-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf Großartig…
Am Morgen des 5. März 1953 sieht Swetlana Allilujewa zu, wie ihr Vater,
Stalin, stirbt.
„In den letzten zwei Stunden erstickte er einfach. Die Agonie war
entsetzlich, sie erwürgte ihn vor aller Augen. Er öffnete plötzlich die
Augen und ließ seinen Blick über alle Umstehenden schweifen. Es war ein
furchtbarer Blick, halb wahnsinnig, halb zornig, voll Entsetzen vor dem
Tode und den unbekannten Gesichtern der Ärzte, die sich über ihn beugten.
Da hob er plötzlich die linke Hand und wies mit ihr nach oben, drohte uns
allen. Die Geste war unverständlich, aber drohend. Im nächsten Augenblick
riss sich die Seele nach einer letzten Anstrengung vom Körper los.“
Es ist eine Szene wie aus dem spätexpressionistischen Eisenstein-Film „Iwan
der Schreckliche“ – in schwarz-weiß, mit Schlagschatten und einer
Großaufnahme der Hand am Ende.
Die Nachricht von diesem Tod weckte 10.000 Kilometer weiter östlich am
Polarkreis bange, wilde Hoffnung. Die Schriftstellerin Jewgenija Ginsburg,
die in dem Lager Kolyma als Zwangsarbeiterin schuftete, beschrieb, wie die
Nachricht von Stalins Tod im Gulag wirkte. „Es gab weder Tatsachen noch
nüchterne Analysen der Ereignisse, auf die wir uns stützen konnten. Und
dennoch plötzlich spannten sich alle Muskeln des Körpers und alle Kräfte
der Seele. Ich spürte eine unglaubliche Energie in mir, als sei ich
zwanzig“.
Die neuen Machthaber in Moskau, Chruschtschow, Malenkow, Molotow und
Berija, waren funktionierende Teile des stalinistischen Terrorsystems
gewesen. Sie hatten Todeslisten und Deporationsbefehle unterschrieben.
NKWD-Chef Berija war einer der effektivsten Massenmörder des Systems.
## Angst vor dem bösen König
Und doch geschah nach dem 5. März Erstaunliches. Das Gewaltsystem, in dem
seit 1930 Millionen massakriert, erschlagen, durch Hunger vernichtet und
erschossen worden waren, kam fast zum Stillstand. Kinder, Kleinkriminelle,
Behinderte, Leute, die willkürlich auf der Straße verhaftet wurden,
Generäle, Bolschewisten, Bauern und auch Henker und deren Auftraggeber
selbst waren diesem System zum Opfer gefallen. Noch nie hatte ein Regime
die eigene Gesellschaft mit einem solchen entfesselten, unkalkulierbaren
Terror überzogen. Dieses System ging am 5. März 1953 unter.
Stalin hatte vor seinem Tod mit der „Ärzteverschwörung“, die sich gegen
Juden richtete, die Gewaltmaschine wieder in Schwung gebracht. Es hatte
Erschießungen gegeben, Schauprozesse gegen jüdische Sowjetbürger wurden
vorbereitet. Chruschtschow & Co stellten die Maschine innerhalb von Tagen
fast lautlos ab. Die Anklagen verschwanden, ermordete Opfer wurden
rehabilitiert. Im inneren Machtzirkel verabschiedete man sich vom Mord als
dem normalen Modus des politischen Geschäftes.
Nur Berija, dem Chruschtschow zutraute, Stalin als böser König zu beerben,
wurde im Juni verhaftet und samt Helfern erschossen: Es war eine Art
antistalinistischer Akt mit stalinistischen Mitteln.
Im März 1953 begann die stille Rückkehr in halbwegs zivile Verhältnisse.
1,2 Millionen Gefangene, darunter Jewgenija Ginsburg, wurden im Frühjahr
1953 aus dem Gulag entlassen. Der Historiker Jörg Baberowski hält es für
Chruschtschows kaum überschätzbares Verdienst, den Albtraum beendet zu
haben. „Chruschtschows Entstalinisierung war eine Kulturrevolution, die das
Leben von Millionen veränderte. Die Tore der Lager wurden geöffnet, obwohl
es keinen Plan gab, was mit Hunderttausenden Kriminellen, Traumatisierten,
Entwurzelten geschehen sollte.“
## Geheimdienst schlug Revolte nieder
Allerdings blieben Millionen, und alle, die willkürlich als Politische
verurteilt worden waren, noch in den Lagern eingesperrt. Im Sommer 1953
revoltierten Tausende in sibirischen Gulag-Lagern in Norilsk, Workuta und
später im kasachischen Karaganda. Rote Armee und KGB schlugen die
Befreiungsaktionen blutig nieder, was in Vergessenheit geraten ist, wenn es
je bekannt war. Die zögerliche Auflösung des Gulag nach 1953 war auch der
Erkenntnis geschuldet, dass das Lagersystem korrupt, ineffektiv und mit 2,7
Millionen Gefangenen überfüllt war.
Es blieb eine halbe Entstalinisierung. Die allermeisten Täter kamen
ungeschoren davon, manche Opfer wurden rehabilitiert, viele nicht. Die
Geschäftsgrundlage des Poststalinismus lautete: Schweigen von unten gegen
eingehegte Gewalt von oben. Das hallt in Russland bis heute nach – in dem
zwiespältigen Bild Stalins als Tyrann und Sieger über Hitler.
Es geht noch eine Irritation von dem 5. März aus und dem, was danach
geschah. War der Terror, wie Baberowski in „Verbrannte Erde“ nahelegt,
allein von Stalin nach Gutdünken dirigiert und letztlich Ausfluss seines
pathologischen Misstrauens? Wirkt die Vorstellung, dass die psychischen
Störungen eines Diktators mehr als 200 Millionen Menschen tyrannisieren
konnten, nicht wie die schrille Übertreibung der eigentlich überwundenen
Vorstellung, dass große Männer Geschichte machen?
Der Motor des Terrors war Paranoia – aber die war mehr als Ausdruck von
Stalins Irrsinn. Der Feind, der immer wieder neu erfunden wurde, war vor
allem eine Erklärung. Der Feind war der Saboteur, der verantwortlich war
für die unübersehbare Kluft zwischen der Fantasiewelt der Propaganda und
dem armseligen Chaos des sowjetischen Alltags.
## Der sowjetische Teufel
Im Stalinismus verwandelte sich das ökonomische System selbst in eine
Fantasie, in der Stahl, der nie produziert worden war, in Brücken verbaut
wurde, die es nicht gab. Schuld an der Misere hatte der fiktive Feind, der
Linksabweichler oder Rechtsabweichler oder beides zusammen war, der Pole,
Bauer, Jude oder Apparatschik sein konnte. Dieser Feind war, was Teufel
oder Hexen in vormodernen Gesellschaften gewesen sein mögen: Chiffre des
Bösen, die Erklärung, warum es ist, wie es ist.
Der Massenterror gegen „den Feind“, der jeder sein konnte, war beides:
Ausdruck von Stalins Paranoia und rationale Machtbegründung. Der
„Volksfeind“ war die universale Erklärung für den Defekt des
Staatssozialismus. Erst in den 80er Jahren unter Gorbatschow, im Augenblick
des Verschwindens, war die Gesellschaft zu einer realitätstauglichen
Selbstbetrachtung in der Lage.
Der Gulag ist nicht Teil des universellen Gedächtnisses geworden, so wie
das NS-System. Es gibt keinen mit Spielbergs „Schindlers Liste“
vergleichbaren Film über den niedergeschlagenen Aufstand in Workuta im
Sommer 1953. Es gibt keinen mit Claude Lanzmanns „Shoa“ vergleichbaren
Versuch, das Sichtbare und das Unsichtbare des Verbrechens zu zeigen. Es
gibt kein dem Tagebuch der Anne Frank vergleichbares Zeugnis, das zum
Erinnerungsrepertoire des 20. Jahrhundert gehört.
Die Verbrechen des Stalinismus sind weitgehend gesichts- und namenlos
geblieben, ohne Reliefabdruck im kollektiven Gedächtnis, ohne
Identifikationsfiguren, ohne ästhetische Debatten, wie das Unaussprechliche
zu formulieren ist.
Man mag diese narrative Leere als letzten Erfolg des stalinistischen
Versuchs sehen, die Opfer auszuradieren.
5 Mar 2013
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Stefan Reinecke
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