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# taz.de -- Russisch-Orthodoxe Kirche: Des Popen Bart und Burg
> Mit ihrem Punk-Gebet in der Moskauer Christi-Erlöser-Kirche wurden Pussy
> Riot vor genau einem Jahr weltbekannt. Ein Kirchenbesuch.
Bild: 21. Februar 2012: Nur 40 Sekunden dauerte die Aktion von Pussy Riot, bis …
MOSKAU taz | Mascha und Lena beugen sich über den Zettel mit der hellgrünen
kirchenslawischen Aufschrift o sdrawii. „Für das Wohlergehen“ heißt das a…
Deutsch. Die beiden jungen Mädchen aus dem russischen Süden möchten Freunde
und Verwandte in ein Fürbittegebet mit aufnehmen lassen. Sie sind zum
ersten Mal in Moskau, scheinbar auch das erste Mal in einer Kirche mit
einem persönlichen Anliegen.
Aufmerksam studieren sie die Instruktionen, die über dem hölzernen
Schreibpult hängen, das sich meterlang an der Wand des Kirchenvorraums
entlangzieht: Bitte Großbuchstaben verwenden, gültig nur für Getaufte,
Namen des zu Gedenkenden im Genitiv.
Maximal 15 Eintragungen pro Zettel. Vor dem Gedenken meldet sich noch
einmal die Bürokratie. Auch Verstorbene können in ein Gebet eingeschlossen
werden, dafür gibt es ein braunes Extrablatt. Eine Gedenkeinheit kostet 50
Rubel (1,25 Euro), die an der Kasse bei dem Mütterchen gegenüber zu
entrichten sind.
## Der Schulterschluss
Die Schlange an diesem Sonntag wird nicht kürzer. Hunderttausend Gläubige,
Pilger und Touristen besuchen die Christi-Erlöser-Kathedrale, das Heiligtum
der russisch-orthodoxen Kirche, jeden Monat. Seit die Frauenpunkband Pussy
Riot im Februar letzten Jahres in einem Stoßgebet vor dem Altarraum die
Muttergottes bat, sich doch Wladimir Putins anzunehmen und den
Präsidentschaftskandidaten nicht wieder in den Kreml einziehen zu lassen,
zählt die Kirche zu den bekanntesten Gotteshäusern der Welt. Der Veitstanz
dauerte vierzig Sekunden, bis der Wachdienst die maskierten Aktivistinnen
aus der No-go-Area des Altars entfernte.
Der Protest galt dem Schulterschluss zwischen Staat und Kirche. Der
Patriarch Kyrill, Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, hatte Putin
kurz vor den Wahlen im vergangenen Februar zu einem Gottgesandten, einem
„Wunder Gottes“, erhoben und den Exgeheimdienstler zum fleischgewordenen
Erlöser geweiht – mit dem Recht, allumfassend zu richten. Nicht einmal in
Byzanz, woher Russland das Christentum übernahm, war der Herrscher so
sakrosankt.
Im Sommer 2012 wurden die jungen Aktivistinnen zu zwei Jahren Lagerhaft
verurteilt. Die Causa Pussy Riot legte Verwerfungen und Brüche der
russischen Gesellschaft offen. Michail Rjasanzew ist Priester an der
Christi-Erlöser-Kathedrale und zählt zu den gemäßigteren Stimmen der
Orthodoxie. Freunde und Mitstreiterinnen der Punkerinnen hätten längst für
sie beten lassen, meint er versöhnlich. Schließlich ginge die Tochter einer
der Inhaftierten auch in eine Sonntagsschule. Er versucht die Risse in der
Glaubensgemeinschaft notdürftig zu kitten.
## Ein Steinwurf vom Kreml entfernt
Die Kathedrale ist mehr als ein Gotteshaus. Der riesige weiße Bau liegt nur
einen Steinwurf vom Kreml, dem Machtzentrum Russlands, entfernt. Vom
nördlichen Glockenturm der Kirche ist das Gebäude des Generalstabs zu
sehen. Und auch das berüchtigte Haus am Quai, in dem Stalin seine
Mitstreiter zunächst privilegiert unterbrachte, um sie dann im Laufe der
Schauprozesse und Säuberungen 1937 umbringen zu lassen, steht in
unmittelbarer Nachbarschaft. Andrei, der Leiter des Wachdienstes, der die
Führung übernimmt, entpuppt sich als ein exzellenter Kenner der Geschichte
und orthodoxen Kunst. Von Haus aus ist er gelernter Lagerarbeiter, der erst
spät zu Gott fand, wie er sagt.
Am Tag des Punkgebets sei er nicht im Dienst gewesen, erzählt der
Mittfünfziger, der in seiner Arbeit aufgeht. Er hat sich bewusst für den
Wachdienst bei der konfessionellen Firma Kolokol – übersetzt heißt das „d…
Glocke“ – entschieden, weil er Gott auf diese Weise immer nah sein kann.
Das Schicksal der Kathedrale ist bitter, wie Geschichte nur sein kann. Im
19. Jahrhundert wurde sie errichtet, um des Sieges über Napoleon 1812 zu
gedenken. Es sollte ein Pantheon für die gefallenen Offiziere und ein
Symbol russischer Wehrhaftigkeit werden. 44 Jahre zog sich das Bauen hin.
Dutzende Korruptions- und Bauskandale sind in den Annalen verzeichnet, bis
die Kathedrale 1883 endgültig eingeweiht werden konnte. Sie war von Anfang
an mehr als eine Kirche. Eher ein Schrein des Patriotismus, womit der
Klerus unterstrich, dass, wer Russe ist qua Geburt, auch orthodox sein
müsse.
## Unmengen Blattgold
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ein orthodoxer Gläubiger muss
nicht unbedingt an Gott glauben, es gibt auch „orthodoxe Atheisten“, wie
sich der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, stolz
selbst bezeichnet. Priestermörder Lenin und Jesus miteinander zu vermählen,
stößt auch bei den hohen Würdenträgern der Kirche kaum auf Vorbehalte. Das
mag an persönlichen Bindungen des Klerus zum KGB während der Sowjetzeit
liegen. Es erinnert aber auch an Praktiken synkretistischer
Stammesreligionen.
Dem Baubeginn war indes an derselben Stelle der Abriss eines Klosters
vorausgegangen, dessen verzweifelte Äbtissin prophezeit haben soll: „Diese
Kirche wird nicht lange stehen!“, erzählt Andrei beim Rundgang durch den
oberen Teil des Chores. Auch dort, wo der einfache Besucher nicht
hingelangt, ist der Prunk atemberaubend. Unmengen Blattgold wurden
verwendet. Andrei schwärmt von den flächendeckenden Fresken der unzähligen
Herrscher, Helden und Heiligen. „Wie lange haben die Künstler beim
Wiederaufbau der Kirche daran wohl gesessen?“, will er wissen. Gibt aber
sogleich selbst die Antwort: „Ein Jahr, wofür sie früher Jahrzehnte
brauchten.“
Und dies in den 1990er Jahren, einer Zeit, als das strauchelnde Russland
jeden Rubel nötig hatte. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus erfüllte
die Wiedererrichtung des 1931 von den Bolschewiken gesprengten Sakralbaus
jedoch gleich mehrere Funktionen. Sie setzte ein Zeichen des Widerstands,
zelebrierte den Sieg über die Unmenschlichkeit und schuf damit ein Symbol,
das der verunsicherten Masse einen geistigen Flucht- und Orientierungspunkt
bot. Wer konnte ahnen, dass der Patriotismus des 19. Jahrhunderts bald
schon eine Neuauflage im Geheimdienstregime Wladimir Putins erfahren würde?
Wer hätte ahnen können, dass der Klerus an die mittelalterliche Tradition
der Großfürsten und „Machtkirchler“ anknüpfen würde, die den weltlichen
Herrscher zum Stellvertreter Christi auf Erden erkoren hatten?
## Stalin war wütend
Nach dem Abriss im Jahr 1931 sollte auf dem Baugelände, das Diktator und
Klosterschüler Stalin persönlich absegnete, eigentlich ein „Palast der
Sowjets“ entstehen: 415 Meter hoch, gekrönt von einer 100 Meter hohen
Lenin-Statue. Die militärischen Abwracker bissen sich an den Wänden jedoch
die Zähne aus. „Stalin war außer sich, dass unsere Kräfte nicht reichten,
und ordnete die Sprengung an“, schrieb ein Ingenieur später. Der Marmor sei
in den Metrostationen, den Katakomben des Proletariats, verbaut worden,
weiß Andrei. Der Palast blieb ein Projekt, die riesige Baugrube jedoch
wurde in ein Schwimmbad umgewidmet.
Heute ist dies der mit grauem Granit verkleidete Unterleib der Kathedrale,
in den wir hinabsteigen. Es ist der Ort, der das profane Leben beherbergt.
Ein Labyrinth aus Gängen und Räumen, über Etagen verteilt. Speisesäle für
große Gesellschaften unter einfarbigen Tunnelgewölben reihen sich
aneinander. Sie sind nach dem griechischen Trapeza benannt, was Tisch
bedeutet, wohinter sich aber auch ein Laden oder eine Bank verbergen kann.
## Unterirdische Waschstraße
Seit der Aktion und Verurteilung der Pussy Riots nahm die kritische
Öffentlichkeit auch das Geschäftsgebaren der Kirche etwas genauer unter die
Lupe. Ein Geflecht von Läden kam zum Vorschein, das auf dem Gelände Schmuck
und teure Uhren verkauft. Dazu die Einnahmen aus Banquetten und
VIP-Veranstaltungen. Wohin fließt der Gewinn, fragte die Organisation der
Verbraucherschützer. Der gemeinnützige städtische Fonds, der die
wirtschaftlichen Belange verwaltet, behauptet, nur 1 Million Euro im Jahr
Gewinn zu machen. Ein bescheidener Betrag, für den kaum ein russischer
Geschäftsmann den Allerwertesten bewegen würde. Schon gar nicht Patriarch
Kyrill, Fan des Vierradantriebs, Liebhaber von sündhaft teuren Uhren und
Luxuslimousinen. Die Kirche distanzierte sich jedoch von den Geschäften und
verwies auf den Fonds, der für jede Dienstleistung auch von ihr Geld
verlange.
## Geweihtes Wasser für 50 Cent
Wem soll man da glauben? Wohl besser keinem. Noch ist nicht vergessen, dass
die russisch-orthodoxe Kirche durch den Verkauf von Schnaps und Zigaretten
ihr Vermögen anhäufte. Und auch die jahrhundertelange Erfahrung der
Gläubigen immunisierte gegen Gutgläubigkeit. Sie waren sich nämlich sicher,
„des Popen Bart hängt immer in der Butter“.
Zumindest hält der Patriarch auch einen Teil seines exklusiven Fuhrparks in
der Erlöser-Garage unter Tage. Dem angeschlossen ist eine Waschstraße, die
auch einfachen Autofahrern offen steht. Wird hier mit Weihwasser den
Gefahren des Moskauer Verkehrs vorgebeugt? Der misstrauische
Waschdienstleiter gibt keine Auskunft, stellt stattdessen die Zufahrtsampel
auf Rot und lässt das Tor runter. Besuch von Störenfrieden häuft sich.
Nebenan rumpeln noch die Maschinen eines geistlichen Waschsalons. Davor
befindet sich eine Installation von Metalldetektor mit Wachmann, der
schläfrig Rätsel löst. Nach dem Rundgang wartet in der unterirdischen
Kantine dann noch ein Cappuccino auf uns: aus der Maschine mit geweihtem
Wasser für 50 Cent.
21 Feb 2013
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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