# taz.de -- Lutherpreis für Pussy Riot: Im Intimbereich des Glaubens | |
> In Wittenberg zählt das Wort der Theologen – ob von Luther oder | |
> Schorlemmer. Wie „unerschrocken“ darf es im Fall von Pussy Riot sein? | |
Bild: Stein des Anstoßes: Punk-Gebet von Pussy Riot in der Christus-Erlöser-K… | |
WITTENBERG taz | Warum noch Worte zu Pussy Riot? Friedrich Schorlemmer hat | |
alles schon gesagt, doch sagt er es jetzt, ein wenig genervt, noch einmal: | |
Nichts hält er von der Aktion in der Christus-Erlöser-Kathedrale, gewiss | |
haben die jungen Frauen religiöse Gefühle verletzt, die Performance sei | |
kein Gebet gewesen und preiswürdig sei diese Aktion auch nicht, schon gar | |
nicht für eine Ehrung, die sich auf Martin Luther beruft. Aber damit keiner | |
zweifelt: Die Strafe für diesen Auftritt sei völlig unangemessen, und ein | |
Freund Wladimir Putins ist er ganz sicher nicht. | |
Friedrich Schorlemmer sitzt in seiner Wohnung, hockt mehr auf der Kante als | |
auf dem Stuhl und blickt bei seiner Philippika gelegentlich aus dem | |
Fenster, wo das Laub in der Sonne leuchtet. Mal kneift er die Augen | |
zusammen, mal reißt er sie auf, manche Sätze rattern aus seinem Mund, | |
manche winden sich langsam heraus. | |
Man kann das als affektiert bezeichnen, hier in Wittenberg immer ein | |
bisschen so zu reden, als wäre jeder Satz in Bronze gegossen wie Luthers 95 | |
Thesen an der Tür der Schlosskirche. Friedrich Schorlemmer liegt dieser | |
Gestus – als Pfarrer, Pazifist und Bürgerrechtler in der DDR und als | |
Friedenspreisträger und „streitbarer Publizist“ im wiedervereinten | |
Deutschland. | |
Jetzt streitet der 68-Jährige mit der Stadtverwaltung von Wittenberg, dem | |
Bürgermeister und dem Hauptausschuss, der am 13. September Pussy Riot für | |
den Preis „Das unerschrockene Wort“, den alle zwei Jahre 16 deutsche | |
Lutherstädte vergeben, nominiert hat. | |
## Ein Schrei, kein Gebet | |
„Mein Hauptvorwurf an diese Pussys ist, dass sie nicht beten, sondern | |
provozieren.“ Schorlemmer ist aufgestanden, mit verschränkten Armen macht | |
er einen Schritt zum Kachelofen, wo der Doktorhut hängt, dreht sich wieder | |
um, lässt sich fallen. | |
„’Gott ist Dreck!‘ – ist das wirklich ein religiöser Refrain?“ Schor… | |
schüttelt den Kopf. „Das war kein Gebetsschrei, sondern ein Schrei nach | |
Aufmerksamkeit. Dabei ist das Gebet der tiefste Ausdruck des Glaubens“, | |
sinniert er. „Es ist etwas anderes, wenn Frauen in eine Kirche eindringen | |
und rumhüpfen.“ | |
Aber gab es nicht auch Punkkonzerte in den Kirchen der DDR? Schorlemmer | |
überlegt. „Wir haben ein anderes Kirchenverständnis. Bei uns kann man auch | |
im Altarraum Grenzwertiges zeigen.“ Aber auch da gebe es Grenzen. „Bitte | |
nicht so, dass man Menschen in ihren religiösen Gefühlen so verletzt.“ | |
Von Gotteslästerung und Blasphemie habe er hingegen nie gesprochen, wie ihm | |
eine Zeitung angedichtet hat. „Das Wort Blasphemie verwende ich in diesem | |
Zusammenhang nicht. Wegen des Blasphemievorwurfs sind schon Menschen | |
verbrannt worden. Das Wort ist dadurch auch verbrannt.“ Schorlemmers Satz | |
hallt wie ein Akkord nach. | |
## Der Glaube ist ein zartes Ding | |
Und in welcher Kirche fand der Auftritt der Pussys statt! In der | |
Christus-Erlöser-Kathedrale, die Stalin 1931 hat abreißen lassen. „Dass die | |
wiederaufgebaut wurde, ist für die russische Seele von großer Bedeutung.“ | |
Kurzum – der Glaube ist ein zartes Ding. „Es gibt auch einen Intimbereich | |
des Glaubens.“ Er legt dabei seine Hand bedächtig auf die ovale | |
Tischplatte, als ob er diesen Gedanken versiegeln will. „Das Gebet ist die | |
Grundspeise des Glaubens.“ | |
Plötzlich braust es wieder. „Als Fotzenaufstand, hat jemand gesagt, müsste | |
das richtig übersetzt werden.“ Seltene Vokabeln aus dem Munde eines | |
Pastors. Friedrich Schorlemmer hat sie in den letzten Tagen mehrfach | |
gebraucht. Das „unerschrockene Wort“ setzt andere denkwürdige Wörter frei. | |
Und was denken die orthodoxen Christen in Russland jetzt über die Stadt der | |
Reformation? „Die kriegen den Lutherpreis von den Leuten in Wittenberg! Das | |
fällt auf uns zurück. Ich fühle mich verarscht, um in dieser Sprache zu | |
bleiben.“ | |
Im vorigen Jahr hat Schorlemmer die Laudatio auf Dmitrij Muratow gehalten, | |
den Chefredakteur der Nowaja Gaseta aus Moskau, der den Preis „Das | |
unerschrockene Wort“ für seine Redaktion entgegennahm. Fünf | |
Redaktionsmitglieder sind wegen ihrer Recherchen ermordet worden, darunter | |
2007 auch Anna Politkowskaja. | |
Schorlemmer hat eine klangvolle Rede gehalten, hat Thomas Mann, Anna | |
Achmatowa und Hilde Domin zitiert. Und natürlich Luther. Wer würde die | |
Preisrede auf Pussy Riot halten? Schorlemmer fragt bloß: „Was soll Muratow | |
denken?“ | |
## „Ein verheerendes Signal“ | |
Dmitrij Muratov könnte schon im Bilde sein. Die Rossijskaja Gaseta, das | |
Sprachrohr der russischen Regierung, berichtete von der Nominierung, dass | |
Protestanten dagegen intervenieren, und zitiert den „bekannten deutschen | |
Bürgerrechtler und Protestanten“ Schorlemmer: „Ein verheerendes Signal“. | |
Horst Dübner wirkt auch nicht gerade glücklich. Am 13. September fand die | |
erste Sitzung des Hauptausschusses nach der Sommerpause statt, erzählt der | |
65-Jährige, der für die Linkspartei im Ausschuss sitzt. 24 | |
Tagesordnungspunkte hatten sich seit Juni aufgetürmt. | |
Dübner empfängt im Büro der Linkspartei in der Pfaffengasse, die auf die | |
Schlosskirche mit ihrer Thesentür zuläuft. Der Antrag besteht aus einem | |
Satz: „Der Haupt- und Wirtschaftsausschuss beschließt, die russische | |
Punkrock- Band ’Pussy Riot‘ als Vorschlag der Lutherstadt Wittenberg für | |
den Preisträger 2013 für ’Das unerschrockene Wort’ zu nominieren.“ | |
Unterschrift Naumann, Oberbürgermeister. | |
Neben Haushaltssatzung, Kindertagesstätten und dem Umzug der Städtischen | |
Sammlungen sollte der Ausschuss zügig über Pussy Riot beraten. Dübner | |
erinnert sich, dass mancher fragte: Haben wir noch Zeit? Nein, die | |
Nominierungsfrist laufe ab. Es gab eine kurze Diskussion. Dübner hat das | |
Ergebnis im Kopf. Fünf dafür, zwei dagegen, zwei Enthaltungen. Erledigt. | |
## Im Stadtrat rumort es | |
Bei der Frage, ob mit Pussy Riot die Richtigen nominiert wurden, gebe es | |
Für und Wider, sagt Horst Dübner diplomatisch. Die Mehrheit in seiner | |
Fraktion sei der Meinung, dass es bessere Kandidaten gebe. Dübner selbst | |
enthielt sich, den Beschluss trägt er mit. | |
Andere sind weniger standfest. Im Stadtrat rumort es. Die „Allianz der | |
Bürger“ will in der Stadtratsitzung am heutigen Mittwoch den Beschluss | |
kippen. Die Stadt hat sich schon bei der Kommunalaufsicht erkundigt, ob die | |
Nominierung rückgängig zu machen ist. Die habe abgewinkt. Alles korrekt, | |
der Beschluss sei vollzogen. | |
Horst Dübner bleibt gelassen, eines ist ihm klar: Es werde zukünftig einen | |
anderen Weg geben, mit mehr Vorschlägen und einer längeren Diskussion. Eine | |
Ausschreibung im Amtsblatt lädt nicht zur Beteiligung ein. | |
Jetzt treffen auch Dübner die Blitze der Nominierungsgegner. Er überfliegt | |
einen Brief: „Pussy Riot haben noch nichts geleistet … wussten, worauf sie | |
sich einlassen … zwei Jahre – nicht zuviel und nicht zuwenig …“ Solche | |
Schreiben stecken im Postkasten. Der Atheist Horst Dübner, letzter | |
SED-Kreissekretär von Wittenberg, muss über so viel Ingrimm lächeln. Als ob | |
die Seligkeit der Welt an einer Abstimmung im Hauptausschuss des | |
50.000-Einwohner-Nestes hänge. Wittenberg ist nicht der Nabel der Welt. | |
## Das protestantische Rom | |
Wittenberg ist immer noch das protestantische Rom und schickt sich 2017 an, | |
500 Jahre Reformation zu feiern, ein evangelisches Glaubensfest mit Gästen | |
aus allen christlichen Konfessionen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche gilt als | |
äußerst schwieriger Kamerad. | |
Mit dem Amtsantritt von Margot Käßmann hat sie vor drei Jahren alle | |
Kontakte zur EKD eingefroren. Eine Frau als Gegenüber für den Patriarchen? | |
Niemals. Dieses Problem hatte sich nach der Alkoholfahrt der | |
EKD-Ratsvorsitzenden schnell erledigt. Doch jetzt vermengen sich Pussy Riot | |
und Luther. | |
EKD-Auslandsbischof Martin Schindehütte hat eine Botschaft an Metropolit | |
Ilarion gesandt, den „Außenminister“ des Moskauer Patriarchats. | |
Schindehütte schreibt, dass der Preis keine kirchliche Ehrung darstelle und | |
dass die Nominierung von einem falschen Verständnis Luthers zeuge. Es liest | |
sich wie eine größtmögliche Distanzierung von Wittenberg und seinem | |
Vorschlag. | |
Die evangelischen Amtsträger bemühen sich sehr um ihre Brüder aus Moskau, | |
die sich über die Entweihung der Christus-Erlöser-Kathedrale in heiligem | |
Zorn ergehen und ungerührt in deren Katakomben eine Autowaschanlage und | |
eine chemische Reinigung betreiben. | |
## „Man muss sie vor dem Gefängnis retten“ | |
Solche Mysterien waren Luther ein Gräuel. „Es liegt nichts an mir, aber | |
Gottes Wort will ich mit fröhlichem Herzen und frischem Mut verantworten, | |
niemand angesehen, dazu mir Gott einen fröhlichen und unerschrockenen Geist | |
gegeben hat“, steht an einem Balken in der Durchfahrt zum Lutherhaus | |
geschrieben. Friedrich Schorlemmer kann dieses Lutherwort im Halbschlaf | |
hersagen. Es hat sein Motto 2011 auch Chefredakteur Muratow mit auf den Weg | |
gegeben. | |
Der hat sich Sonntagabend aus Moskau gemeldet. Es war ein furchtbarer | |
Auftritt, schreibt er, und wenn die Frauen nicht im Gefängnis säßen, wäre | |
er nicht auf ihrer Seite. „Aber sie sitzen im Gefängnis!!! Wie könnte ich | |
jetzt nicht empfehlen, die Frauen zu nominieren?“ Einer halben Stunde | |
später schickt er hinterher: „Nicht ein Preis ist vonnöten, sondern etwas | |
Wirkungsvolleres. Man muss sie vor dem Gefängnis retten.“ Es klingt wie ein | |
Aufschrei. | |
24 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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