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# taz.de -- Nachruf Walter Schilling: Pfarrer der Außenseiter
> Auf die Frage nach seinem theologischen Konzept sagte Walter Schilling:
> „Es gibt keins.“ Andersdenkenden bot der Thüringer Zuflucht vor dem
> Zugriff der Stasi.
Bild: Seit den 50er Jahren aus Stasi-Sicht ein Ärgernis: Walter Schilling.
BERLIN taz | Nach Braunsdorf zu „Walter“, dem Pfarrer Walter Schilling,
konnte jeder kommen, egal mit welchem Outfit. Zuerst kamen Rudolstädter und
Saalfelder Jugendliche, die einen Raum zum Hören ihrer Musik suchten, ohne
dass gleich die Polizei einschreiten konnte.
Brutale Übergriffe auf Langhaarige und deren gesellschaftliche
Stigmatisierung gehörten damals zum realsozialistischen Alltag, was aber
auch zunehmend Widerstandsgeist weckte. Auf dieser „Insel im roten Meer“
war freie Meinungsäußerung möglich. Dieser Raum war im Gegensatz zur
SED-normierten Allgegenwart ein Freiraum für Selbstentfaltung.
Walter Schilling, ein Jazz- und Bluesliebhaber mit langen Haaren und Hang
zu starkem Kaffee und starken Zigaretten der Sorte Karo, lehnte
Bekenntniszwang und Messianismus ab. Zunehmend besuchten auch atheistisch
geprägte Jugendliche seine Gottesdienste in der alten Dorfkirche, bei denen
er praktische Erfahrungen aus dem Lebensumfeld der Jugendlichen mit
Bibelworten zu verknüpfen wusste. In den Nächten am Kamin wurden bei
Watzdorfer Bier Beziehungskisten und Zukunftsvisionen debattiert.
Das Wichtigste für das Entstehen einer sich immer breiter locker
vernetzenden Gemeinschaft waren Authentizität, Selbstgestaltung und die
gemeinsam durchlebten Konflikte. Der Braunsdorfer Pfarrer Walter Schilling
vermochte es, eine große Gemeinde um sich zu versammeln, über
Kirchenstrukturen hinweg. Immer wieder ermutigte er, Rechte in der
geschlossenen Gesellschaft DDR einzufordern.
Die jungen Menschen, die bei Schilling einen Ort fanden, nannten sich
selbstironisch „Kunden“ – Ost-Hippies eben. Studierende waren selten unter
ihnen, da nonkonforme Jugendliche von der SED als bildungsunwert
ausgesondert wurden. Der Kreis der „Jünger der Offenen Arbeit“ entstand –
ganz biblisch – aus den Ausgegrenzten.
## Miteinander Kirche sein, nicht für andere
Geschah irgendwo im Osten ein Unrecht, so erfuhren es bei den Braunsdorfer
Kamingesprächen bald auch Erfurter und Karl-Marx-Städter. Dies war in einer
Gesellschaft ohne freie Medien von unschätzbarem Wert. Statt
paternalistisch Kirche „für“ andere zu sein, sollte ein „miteinander“
entstehen. Nach seinem theologischen Konzept gefragt, antwortete Schilling
gern: „Es gibt keins.“
Die neue Jugendarbeit wurde ab 1970 als „Offene Arbeit“ (OA) bezeichnet.
Der Freiraum für Muße als menschlichem Grundbedürfnis und
Entfaltungsbedingung von Personalität war eine ihrer Stärken. In einer auf
Kollektivierung und Nivellierung von Individualität ausgerichteten
kommunistischen Welt war dies ein geradezu revolutionärer Ansatz. Letztlich
erwuchs aus dem Schillingschen Theologieverständnis der „Nachfolge Jesu“
die Befähigung zum gemeinsamen politischen Handeln.
Schilling war ein Kommunikationstalent. Er konnte Geschichten und
Begebenheiten erzählen, die zu modernen Gleichnissen gerieten. Allen
Widrigkeiten einer Diktatur zum Trotz beharrte er darauf: „Ich muss es nur
versuchen. Es gibt immer einen Ausweg.“
## Die Stasi-Akten
Der Staatssicherheitsdienst überwachte Schilling schon seit den fünfziger
Jahren als Nichtwähler. Als er sich 1963 in die Jugendpolitik einzumischen
begann und ein neues Gesetz kritisierte, tauchten Stasi-Offiziere bei ihm
auf. Nachdem sie seine kritische Distanz zur SED-Politik bemerkt hatten,
wurde er in verschiedenen operativen Vorgängen „bearbeitet“. In den Akten
wurde Walter Schilling mit den Bezeichnungen „Reaktionär“, „Plakat“ und
„Spinne“ bedacht. In der Wendezeit wurde ein Teil eilig vernichtet.
Beargwöhnt wurden vor allem seine vielfältigen Kontakte. Am meisten wurmte
die grauen Genossen, dass Schilling ihre Konspiration vereitelte. Schon
1959 hatte er begonnen, Jugendliche vor Anwerbungen durch die Stasi zu
warnen. Immer wieder sprach er offen über das tabuisierte und angstbesetzte
Thema Stasi und hielt darüber ab 1986 angekündigte Vorträge in Thüringer
Jungen Gemeinden.
Schilling gelang das Kunststück, Jugendliche, die die Stasi als
Inoffizielle Mitarbeiter zu werben trachtete, aus deren Fängen zu befreien.
Sollte ein junger Mann, der sich Schilling offenbarte, in einem Café als IM
geworben werden, dann kam auch der Pfarrer zu dem Termin und wartete an
einem Ecktisch.
## Scheiternde Spitzel-Anwerbung
Kaum war der Stasi-Mann eingetroffen, gesellte sich Schilling zu den beiden
und sagte: „Stell’ mir doch mal Deinen Bekannten vor.“ Aus Konspiration
wurde Dekonspiration. Die versuchte Spitzel-Anwerbung war aufgeflogen und
damit gescheitert. Voraussetzung war, dass es Schilling immer wieder
gelang, das Vertrauen Jugendlicher zu erwerben.
1973 versteckte Schilling einen Deserteur auf dem kirchlichen Gelände,
obwohl das NVA-Militärlager Dittrichshütte nur ein paar Steinwürfe entfernt
lag. Im Gespräch mit Offizieren erreichte er, dass kein Gerichtsprozess
angestrengt wurde. Immer wieder stand er Wehrpflichtverweigerern bei und
verschaffte sich Zugang zu Prozessen.
1976 war er mit Rat und Tat dabei, als Oppositionelle in Jena gegen die
Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierten. Unterschreiben sollten nur die,
die keinen Ausreiseantrag gestellt hatten. Glaubwürdig zu sein, war ihm
wichtig. Hernach kümmerte er sich um die Inhaftierten und ihre Angehörigen.
Walter Schilling wurde am 28. Februar 1930 in Sonneberg/Thüringen als Sohn
eines Pfarrers geboren und wuchs in Oberlind auf. Seine Eltern gehörten der
Bekennenden Kirche an. Mit Siebzehn entschloss er sich, Pfarrer zu werden.
In der Sowjetischen Besatzungszone durfte er nicht studieren.
## Studium in Ost und West
Aber die innerdeutsche Grenze war noch überwindbar, und so ging er nach
Schwerte zum Evangelischen Studienwerk Villigst als Werkstudent. Hier
genoss er eine universale Bildung mit engem Bezug zur Arbeitswelt,
arbeitete als Landwirtschaftsgehilfe in Westfalen und Bergarbeiter im
Ruhrgebiet, was für seinen Ansatz einer pragmatischen und sozial
ausgerichteten Theologie prägend wurde. 1955 schloss er sein in Münster und
Heidelberg begonnenes Theologiestudium in Jena ab.
Bis zur Pensionierung 1995 wirkte er als Gemeindepfarrer in
Braunsdorf-Dittrichshütte bei Saalfeld.
Seine Gemeinde wuchs bald über seinen Seelsorgebereich der
100-Seelen-Dörfer hinaus. Dies hatte mit dem offenen Jugendrüstzeitheim zu
tun, das Walter Schilling als Kreisjugendpfarrer ab 1959 mit seiner Frau
Eva und der Jungen Gemeinde Rudolstadt ausbaute. Die vormaligen
Stallgebäude wurden so zu dem Pilgerort unangepasster Jugendlicher. Ab 1968
fanden hier die in der DDR proletarischer geprägten Hippies offene Pforten.
Die Räume in Braunsdorf erwiesen sich bald als zu eng. So gestaltete
Schilling mit seinen Mitstreitern 1969 in Rudolstadt eine Beat-Messe:
„Gottesdienst – einmal anders“. 500 jugendliche Besucher strömten in das
Gotteshaus. Beliebte Bands mit staatlichem Auftrittsverbot – wie die Gruppe
Medianas – konnten in der Kirche wieder ein breites Publikum erreichen. Das
blieb nicht ohne Konsequenz. Schon der zweite Versuch in Saalfeld wurde
staatlicherseits untersagt.
## Vorbild der Ost-Berliner Bluesmessen
Erst Ende der Siebziger gelang es Schilling und seinem Amtskollegen Uwe
Koch, solche Großveranstaltungen in Rudolstadt wieder zu organisieren und
dabei kaum noch verklausuliert politische Partizipation einzufordern. Nun
kamen 1.000 bis 2.000 Besucher aus allen Regionen. Besucher aus Berlin
waren so begeistert, dass sie in der Samariterkirche die Bluesmessen ins
Leben riefen.
1980 musste das Rüstzeitheim auf staatlichen Druck hin schließen. Schilling
verstärkte fortan seine überregionalen Aktivitäten. So stellte er 1981 mit
anderen aus der Offenen Arbeit eine 60-seitige Dokumentation von
Menschenrechtsverletzungen zusammen, die die Kirchenleitung mit der
bitteren Realität des Umgangs mit kritischen Jugendlichen konfrontierte. Er
half dabei, Licht in den Fall von Matthias Domaschk zu bringen, der im
Geraer Stasi-Gewahrsam ums Leben gekommen war.
1987 beteiligte sich Schilling federführend und als Verfasser diverser
Grundsatzpapiere am Kirchentag von Unten (KvU). Von Juni 1989 bis Juni 1990
begleitete er die Kirche von Unten als Pfarrer ihres Vertrauens. Landesweit
konnte kein anderer Pfarrer gefunden werden, der dem basisdemokratischen,
staats- und autoritätsfeindlichen Selbstverständnis der KvU entsprach.
Um den 7. Oktober 1989 nahm er an der Mahnwache an der Gethsemanekirche
teil und informierte vom dortigen Kontakttelefon über die
Polizeiübergriffe. Am 8. Oktober wurde er selbst festgenommen und in die
U-Haft-Anstalt Rummelsburg gebracht.
## Die Wende-Zeit
Im Dezember 1989 konnte er mit Bürgerkomitee-Vertretern aus verschiedenen
Städten erstmals in die Stasi-Zentrale in der Berliner Ruschestraße
eindringen. Von Bürgerrechtlern besetzt wurde diese dann am 15. Januar
1990.
Nach 1990 widmete er sich der Vergangenheitsklärung vor allem in Bezug auf
die Verstrickung der evangelisch-lutherischen Kirche in Thüringen.
Während seines letzten Lebensjahrzehnts litt er an Osteoporose und nahm nur
noch äußerst selten an Aufarbeitungs-Veranstaltungen teil. Seinen 80.
Geburtstag feierte er noch mit über einhundert Weggefährten in
Dittrichshütte. Sein Haus am Rabenhügel blieb für Freunde ein offenes Haus
voller herzlicher Gastlichkeit. Am 29. Januar 2013 starb er im Krankenhaus
in Saalfeld, nur wenige Wochen vor Vollendung seines 83. Lebensjahrs.
Der Autor engagierte sich vor 1989 in der Jungen Gemeinde Jena und der
Umwelt-Bibliothek Berlin. Er ist Projektmitarbeiter der Gedenkstätte
Berlin-Hohenschönhausen und ehrenamtlicher Redakteur der
Aufarbeitungszeitschrift Horch und Guck.
3 Feb 2013
## AUTOREN
Gerold Hildebrand
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