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# taz.de -- Theater rekonstruiert Pussy-Riot-Prozess: Freiheit, Kunst und Glaube
> Milo Raus inszeniert im Stück „Moskauer Prozesse“ drei russische
> Skandalverfahren. Die Geschworenen dürfen dabei anders urteilen – und tun
> das auch.
Bild: Stellt brisante Verfahren nach: Milo Rau.
MOSKAU taz | Der Ausgang war offen – anders als bei den historischen
Vorlagen, die Regisseur Milo Rau mit der Inszenierung der Moskauer Prozesse
nachbilden wollte. Es geht um drei spektakuläre Gerichtsverfahren, die in
den letzten zehn Jahren einen Kulturkampf belegen, der der Gesellschaft von
Staat und Kirche aufgezwungen wird.
Die Assoziation mit den Stalin’schen Schauprozessen 1937 liegt nahe; an
deren Dimension reicht der vormoderne Zivilisationsvorbehalt der
Prozessmacher aus Kreml und Klerus indes nicht heran. Ihnen ist schließlich
nur am Machterhalt gelegen, nicht an der Schöpfung eines neuen Menschen.
Mit den Mitteln des dokumentarischen Theaters stellte Rau die Verfahren
gegen Kuratoren der religionskritischen Ausstellungen „Vorsicht Religion“
(2005) und „Verbotene Kunst“ (2007) im Moskauer Sacharow-Museum nach. Als
Klimax nahm er sich noch des Falls der Frauenpunkband Pussy Riot an, von
denen zwei Aktivistinnen noch eine zweijährige Haftstrafe verbüßen. Drei
Tage dauerte die Wieder-Holung der Verhandlungen. Am Ende trafen die
Geschworenen ein milderes und vorsichtiges Urteil als die Richter in den
realen Prozessen.
Als eindeutig erwiesen sah es die Jury an, dass die Künstler mit ihren
Arbeiten es nicht darauf abgesehen hatten, Gefühle von Gläubigen zu
verletzen. Ob sie durch ihre Kunst zum Schüren religiösen Hasses
beigetragen hatten, stieß bei der siebenköpfigen Jury auch auf Zweifel. Die
Geschworenen waren nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden, unter ihnen
orthodoxe Gläubige und eine Muslimin. Das Urteil unterstreicht Differenzen,
aber auch die gesellschaftliche Verunsicherung an der Schwelle zur Moderne,
die eher Augenmaß denn Strafe fordert.
Das Besondere an Raus russischem Reenactment, der künstlerischen
Rekonstruktion realer Ereignisse, ist die Zusammensetzung der Mitwirkenden.
Alle Teilnehmer haben mit dem Geschehen direkt oder vermittelt etwas zu
tun. Die Anwältin der Verteidigung und die Sachverständige hatten diese
Funktion auch in den realen Prozessen. Die Anklage war durch Maxim
Schewtschenko vertreten, einen populären TV-Moderator aus dem rechten
orthodoxen Spektrum. Er ist eine charismatische Figur, ein geübter Orator,
gelegentlich ein obskurer Einpeitscher und ein Dompteur jener noch
ungeformten Kräfte der radikal-orthodoxen Gemeinschaft.
## Mitwirkende Realpersonen
Seinen Anhängern hat er Disziplin und Zivilität voraus. Schewtschenko
musste nur sich selbst spielen. Schwieriger hatte es der Staatsanwalt Maxim
Krupskij. Der Jurist schlüpfte in die Anklage, bekleidete eine Position,
die er im Leben nicht vertritt. Auch Katja Samuzewisch, die Aktivistin von
Pussy Riot, die vom Gericht im Oktober freigesprochen worden war, trat am
letzten Tag auf.
Rau war an einem Dialog zwischen den verfeindeten Seiten gelegen, aber dazu
reichte es nicht. Die Kontrahenten hörten einander unterdessen schon einmal
zu. Sie sprachen gelegentlich auch miteinander, ohne sich zu verfluchen.
Die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit, Kunst und Glauben im
Gerichtsaal lädt nicht zum kommunikativen Handel ein.
Ob die Teilnahme bereits die grundsätzliche Bereitschaft dazu signalisiert?
Die Kontaktaufnahme mit einem Therapeuten hat zumindest stattgefunden.
Die Zirkularität der Ereignisse oder – anders – die Pfadabhängigkeit der
gesellschaftlichen Entwicklung brachte die gläubige orthodoxe
Kulturwissenschaftlerin Jelena Wolkowa auf den Punkt: Im Kommunismus habe
sie sich für die Freiheit der Religion eingesetzt, heute verteidige sie die
Freiheit der Kunst vor der Religion.
Unter den Sachverständigen und Zeugen waren viele bekannte Intellektuelle.
Sie ließen sich von provokanten Fragen nicht aus der Ruhe bringen. Vielmehr
nahmen sie sich zurück und zeigten dabei eine Würde, die Achtung verdient.
Leise Stimmen, die die schwache Klammer zur europäischen Zivilisation
verkörpern. Sanftere und einsichtigere Köpfe als die Richterin etwa, die
der heterogenen Opposition zuzurechnen ist. Ihr fiel es schwer, auch einem
intellektuell unterlegenen Gegner Achtung entgegenzubringen. Darin liegt
Russlands Tragik. Dies auch im Spiel erkennen zu müssen entmutigt – mehr
als das Russland der zwei Geschwindigkeiten, die im Saal aufeinandertrafen.
## Der Staatsmacht folgt die Presse
Dafür, dass Raus Re-Inszenierung der vorangegangenen Schauprozesse einem
größeren russischen Publikum bekannt wurde, sorgten Beamte der
Einwanderungsbehörde, die just in dem Moment die Verhandlung sprengten, als
Katja Samuzewitsch im Zeugenstand war. Dem Auftritt der Staatsmacht folgte
die russische Presse, die so erst über die Prozesse berichtete. Außer für
die Protagonisten fand das Reenactment für ein westliches Festivalpublikum
statt. Russland als Dialogfeld war vorgesehen, aber nur halbherzig.
Dennoch: Der Staat war der einzige nicht gecastete Teilnehmer, der die
Veranstaltung in den Wirklichkeitsmodus zurückholte. Der repressive Apparat
führte sich selbst vor, wollte seine Legitimität aber nicht durch Dokumente
oder einen Auftrag nachweisen. Unbeabsichtigt übernahm der Staat so im
Nachhinein die Regie und korrigierte das Format.
Gleichzeitig versammelten sich noch Kosaken vor dem Spielort, die sich als
Hüter des orthodoxen Glaubens verstehen. Randale wäre ihnen gelegen
gekommen. Dank dem Dompteur Schewtschenko verlief es jedoch glimpflich. Er
lud die Glaubensgenossen zur Wahrheitsfindung ein. Einige folgten dem Ruf
in den Saal, blieben aber nicht lange. Es war wohl zu langweilig.
Auf dem Weg nach draußen zwinkerten die Uniformierten auf jeden Fall Katja
Samuzewitsch zu. Auch eine Form des Dialogs.
5 Mar 2013
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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