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# taz.de -- Neuer Roman von Nir Baram: Die Geständnisredakteurin
> „Gute Leute“ heißt der neue Roman des israelischen Schriftstellers Nir
> Baram. Er beschäftigt sich mit jungen Karrieristen im Faschismus und
> Stalinismus.
Bild: Wollte keinen gefühligen Roman schreiben: Nir Baram.
Er wollte keinen gefühligen Roman schreiben, erklärt Nir Baram. Viele
Landsleute hätten sich darüber beschwert, aber die Kälte in „Gute Leute“
ist beabsichtigt. „Hebräische Literatur ist oftmals sehr emotional, völlig
hysterisch. Ich persönlich mag das nicht.“ Darum seien die Charaktere in
seinem Roman komplexer angelegt als im israelischen Roman üblich.
Tatsächlich, emotionale Bindung zwischen Autor und Leserin stellt sich bei
der Lektüre nicht ein. Man schwankt bei den Protagonisten zwischen
Faszination und Entsetzen. „Es sollte richtig schwer sein, über die
Charaktere zu urteilen. Wie bei Fitzgeralds ’Gatsby‘. Das ist doch das Gute
an der Literatur, diese Interaktion.“
Es sind nicht die Eichmanns und die tumben Mitläufer, die den
Schriftsteller Nir Baram am Dritten Reich interessieren, es sind die Albert
Speers. „Solche Leute gibt es in jedem System“, sagt der 35-jährige
israelische Schriftsteller in einem Café in Prenzlauer Berg in Berlin.
Darum hat er „Gute Leute“ geschrieben. Einen Roman über die dreißiger Jah…
und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die Situation in Deutschland,
Polen und der Sowjetunion, genauer in Berlin und in Leningrad, Warschau und
Lublin, zum Schluss in Brest-Litowsk.
## Handlangern von Terror-Regimen
In seinem inzwischen in zehn Sprachen übersetzen historischen Roman geht es
um die geschickt miteinander verwobenen Schicksale von Thomas Heiselberg
und der jungen russischen Jüdin Alexandra „Sascha“ Weißberg. Thomas ist
unpolitisch und eitel, ein junger Berliner, der niemandem außer sich selbst
gegenüber loyal ist. Sascha verrät ihr gesamtes Umfeld und wird zur
Funktionärin der sowjetischen Geheimpolizei NKWD in dem Glauben, sich
selbst und ihre Brüder dadurch retten zu können.
Beide machen sich aus persönlichen Gründen zu Handlangern von
Terror-Regimen, an die sie nicht glauben. „Es wird ein Pakt: Ich gebe dir
meine Loyalität und mein Talent und du gibst mir den Raum, mich
auszuprobieren und jemand zu werden“, sagt Baram über die Motivation seiner
Protagonisten. Es gehe ihm um junge Leute, Karrieristen, und die Frage, von
der er sich wünscht, dass auch junge Israelis sie sich stellen: Wie hätte
ich gehandelt?
Beide Protagonisten verursachen viel Leid, Tod und Zerstörung, dennoch
spart „Gute Leute“ grausame Gewaltdarstellungen aus, nur vereinzelte
Andeutungen sind zu lesen, die es schon aufgrund der präzisen, sehr
feinfühligen Sprache in sich haben. Sascha und Thomas sehen nicht die
Toten, die sie auf dem Gewissen haben. Trotz der Schuld und der
Eitelkeiten, die sie gemeinsam haben – ihre Schicksale sind völlig
unterschiedlich.
Saschas Situation ist bedrohlich, Thomas’ Lage ist auf andere Art
verstörend, weil er sich zunehmend selbst demontiert. Sascha hielt sich für
eine Versagerin, als sie jung war. Sie bekommt durch den NKWD eine neue
Chance. „Das ist die Gefahr eines solchen Regimes – es gibt einem
Möglichkeiten und man lässt sich darauf ein. Das gibt es heute ja auch:
Menschen arbeiten für Organisationen – nicht weil sie daran glauben,
sondern weil diese ihnen Entfaltungsmöglichkeiten bieten“, sagt Nir Baram.
## Bizarres Psychogramm
Die Berufe, die Barams Protagonisten ausüben, sind besonders bizarr: Thomas
entwirft ein Psychogramm der polnischen Volksseele, dessen sich die Nazis
im Auswärtigen Amt bedienen. Sascha schreibt für Stalins Volkskommissariat
Geständnisse der „Verräter“ auf, bevor sie in den Gulag geschickt werden.
„Die Einsicht und der Wille, ein besserer Mensch zu werden, war ganz
wichtig.
Man wollte kein erlogenes Geständnis, sondern ehrliche Lügen.“ So wird
Saschas Position zu einer Parodie auf den NKWD, die die paranoide
Atmosphäre ad absurdum führt.
Baram hat vier Jahre an seinem Roman gearbeitet, dabei viel recherchiert
und Originalschauplätze besucht – um dann solche Berufe wie den einer
„Geständnisredakteurin“ zu erfinden: „Auf diese Weise entsteht eine ande…
Perspektive auf die Zeitgeschichte. Denn Literatur hat die Möglichkeit über
das ’Wie furchtbar‘, ’Alle hassen die Juden‘ hinauszugehen.“
Die Kategorien Gut und Böse und der Gründungsmythos Israels haben den Sohn
eines linken Politikers schon immer befremdet. „Es gibt andere Perspektiven
und Themen, die meine Generation für sich einnehmen sollte, als die von
Opfern oder Besatzern. Die Politik der Angst vor der Vergangenheit und der
Zukunft, wie Netanjahu sie betreibt, funktioniert bei uns nicht mehr“,
erklärt Baram.
Baram setzt sich für den Friedensprozess mit den Palästinensern und für
eine bessere Sozialpolitik in Israel ein. Die Israelis würden keine andere
Regierungsform als die Demokratie akzeptieren, ist er sich sicher.
Allerdings fehle eine israelisch-palästinensische Partei. „Ich bin
skeptisch, dass das möglich sein wird, wir müssen weiter daran glauben.
Israel muss weniger jüdisch und mehr israelisch werden, offen und
demokratisch. Was soll denn sonst aus uns in 70 Jahren werden?“
6 Dec 2012
## AUTOREN
Julia Niemann
Julia Niemann
## TAGS
Roman
Israel
Stalin
Kabarett
Heavy Metal
Alice Schwarzer
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