| # taz.de -- Prosaband „Tanzen auf Beton“: Hölle drinnen und draußen | |
| > Iris Hanika begibt sich mit ihrem Prosaband „Tanzen auf Beton“ in die | |
| > Psychoanalyse: Heavy Metal als Möglichkeit zur Selbstheilung. | |
| Bild: Freunde der Gitarrenmusik tanzen auf dem Metalfestival „Wacken“. | |
| Ist es jetzt ein Roman oder nicht? Lustig, die Frage muss doch immer | |
| geklärt werden. Wahrscheinlich Kritiker-Berufskrankheit. Aber mitunter | |
| durchaus erkenntnisfördernd, und sei es, um herauszufinden, ob | |
| althergebrachte Ordnungsbegriffe noch greifen. Iris Hanikas im Grazer | |
| Droschl-Verlag erschienener Prosaband «Tanzen auf Beton» wird jedenfalls | |
| auf dem Buchdeckel als «Roman» klassifiziert; auf ihrer Homepage ergänzt | |
| die Autorin: «Roman von der unendlichen Analyse, der Lebensroman. Zugleich | |
| Essay, Feuilleton, Bericht und Chronik.» Sie fügt, nicht ohne Stolz, hinzu: | |
| «Es ist ein wüstes Buch geworden.» | |
| Ja, schön wüst ist es geworden. All die genannten Textgattungen kommen in | |
| zunächst willkürlich wirkender Reihenfolge vor – treffend beobachtete | |
| Alltagsmomentaufnahmen vom Unterwegssein, von Orten und Leuten, wie Iris | |
| Hanika sie schon in ihren früheren Büchern, allen voran in der großartigen | |
| Chroniken-Sammlung «Das Loch im Brot», versammelt hat. | |
| Essayistische Betrachtungen zu Heavy Metal, dem als Teenager positiv | |
| missverstandenen Led-Zeppelin-Song «Whole lotta Love», einem | |
| Berghain-Ausflug und zur Pubertät im Allgemeinen, Reisebeobachtungen aus | |
| Sankt Petersburg, Paris und dem ICE; Listen über Errungenschaften des | |
| Alterns, Miniaturen aus der Wahlheimatstadt Berlin und immer wieder | |
| Tagebuchartiges. | |
| Der längste, die ersten zwei Drittel des Buchs dominierende Strang aber | |
| gehört der Selbstanalyse. Warum klappt es nicht mit der Liebe, weshalb | |
| bleibt die Ich-Erzählerin letztlich allein? Schon einmal hat Iris Hanika | |
| Einblick in ihr Seelenleben gewährt: Zusammen mit ihrer Analytikerin Edith | |
| Seifert brachte sie den Band «Die Wette auf das Unbewusste» heraus, der | |
| eine Einführung in die (Lacanianische) Psychoanalyse mit dem | |
| Erfahrungsbericht einer Patientin koppelte. | |
| ## Vom Unglück in die Depression | |
| Damals schien es, als habe die Autorin durch die Therapie den Schlüssel zum | |
| Selbst gefunden; reichlich ernüchtert geht sie in «Tanzen auf Beton» in | |
| eine neue Selbsterforschungsrunde. Wieder ist sie mit einem über das | |
| konkret Höchstpersönliche hinausreichenden Erkenntnisinteresse verwoben und | |
| somit anschlussfähig für andere Erfahrungen. | |
| Am Anfang dachte ich: Sie hat sich´s leicht gemacht. Hat einfach alles, was | |
| an Ich-Beschau und Chronistentätigkeit übers Jahr anfiel, als Roman | |
| deklariert! Die Lektüre widerlegt diesen Verdacht, wenn auch nicht sofort. | |
| Die Protagonistin, alleinstehend und Ende vierzig, beendet nach längerem On | |
| und Off die Affaire mit einem verheirateten Mann, mit dem sie sich so gut | |
| wie nie als Paar in der Öffentlichkeit, geschweige denn im Freundeskreis | |
| gezeigt hat, außer Sex keine gemeinsame Verständigungsebene teilt, und mit | |
| dem eben dieser Sex noch nicht mal befriedigend war. | |
| Als die Geschichte endlich vorbei ist, mündet das latente Unglück nicht | |
| etwa in Erleichtung, sondern in eine handfeste Depression. Aus diesem | |
| Status quo schreibt Iris Hanika sich bzw. ihre Portagonistin (die | |
| Parallelen zur «Wette auf das Unbewusste» legen weitreichende | |
| Übereinstimmung zwischen Ich und Autorin nahe) heraus: Indem sie das | |
| Vergangene noch einmal von allen Seiten betrachtet, und eigentlich kaum | |
| fassen kann, warum sie so lange daran festgehalten hat. | |
| Hanika sichtet die Scherben und versucht, das Puzzle wieder | |
| zusammenzusetzen. Neue Teile tauchen auf, alte werden miteingebaut. Die | |
| Beinahe-Vergewaltigung mit dreizehn, der Mangel an Schutz und Mitgefühl, | |
| den sie zuhause erfuhr. Eine nicht weiter erläuterte Missachtung bereits | |
| «in meinem ersten Lebensjahr»; ein insgesamt eher misogynes Klima. Das | |
| selbstauferlegte Verbot, eine ganze Frau zu sein, weil Frauen Opfer sind – | |
| beim gleichzeitigen Gebot, einen Mann zu haben, weil eine Frau sonst nicht | |
| komplett ist. | |
| ## Aus Jammern wird Jammen | |
| Tatsächlich gehört es ja zu den Schlüsselerfahrungen einer Analyse, dass | |
| sich die eigene Biografie plötzlich also Romanstoff darbietet. Und zwar | |
| sowohl in der kreativen kriminalistischen Lektüre des noch ungeordneten | |
| Materials – der Ursachenforschung, dem Indiziensammeln, der Zeugenbefragung | |
| und Theoriebildung –, als auch in der Möglichkeit, sich die eigene | |
| Geschichte noch einmal neu zu erzählen und vielleicht einer glücklicheren | |
| Wendung zuzuführen. Während sich Hanikas Chronikminiaturen durch große | |
| Leichtigkeit auszeichnen, spürt man in ihrem Analysestrang die | |
| Konzentration und Anstrengung, die es braucht, um streng logisch und | |
| präzise hinter die eigenen Kulissen zu blicken. | |
| Doch Hanika geht es anscheinend noch um einem dritten Punkt, um die | |
| Überführung neurotischen Materials in eine künstlerische Form, um den | |
| Umschlagpunkt von Therapiewissen in Literatur. Sie probiert verschiedene | |
| Rhythmen und Melodien aus, etwa den weisen Traktatton: «Alles, was man tut, | |
| um geliebt zu werden, ist umsonst getan (…) Indes ist alles, was man aus | |
| Liebe tut, wohlgetan und nie umsonst.» Oder den von feiner Selbstironie | |
| durchwirkten Klagegesang: «(…) warum die anderen nicht sehen, wie man | |
| wirklich ist, warum die einen vielmehr gar nicht bemerken, warum man im | |
| Frühling, Sommer, Herbst und Winter unsichtbar ist, und warum man so allein | |
| ist, an Weihnachten ebenso wie zu Ostern und an jedem Ort auf der ganzen | |
| Welt, so furchtbar alleine, und zwar überall und immerdar, in einem fort | |
| und ohne Unterlass, in einem fort und ohne Unterlass, immerfort und | |
| immerdar.» Aus Jammern wird Jammen; aus Privatkram Teilhabe an einer | |
| intimen Poetik. Dass Hanika in der neurotischen Unfreiheit die Freiheit | |
| unendlicher Variationen entdeckt, verleiht ihrem Projekt Souveränität und | |
| Würde. | |
| «Das Glück ereignet sich nicht nur in der Gegenwart, sondern auch außerhalb | |
| der Sprache», schreibt Hanika. «Auch das Unglück ereignet sich außerhalb | |
| der Sprache. Um es aufzuheben, ist es gut, es in Sprache zu überführen.» | |
| Und Iris Hanika ist eine Meisterin der Unglücksversprachlichung, überhaupt | |
| der Gefühlsüberführung in Schriftlichkeit, egal ob zwischen den Zeilen oder | |
| genau darin, ob durch harte Schnitte, Ton- oder Themenwechsel, durch eine | |
| experimentelle Dramaturgie. | |
| Dennoch: Dient die Schreibkur der gewieften Neurotikerin nicht nur als | |
| probates Mittel, um sich weiter um sich selbst drehen zu können, statt sich | |
| wirklich einem oder auch etwas anderem zuzuwenden? Als ich mir diese Fragen | |
| stelle, bricht der Analysebericht ab. | |
| ## Miniaturen von unterwegs | |
| Eine Russlandverliebtheit ergreift die Protagonistin, anscheinend aus nun | |
| wieder heiterem Himmel. Sie reist, liest Gogol, lernt Russisch, «um | |
| Schostakowitsch endlich im Original hören zu können». Und noch eine | |
| Leidenschaft betritt die Bühne: die zur «Schwermetallmusik». «Der Krach tat | |
| mir gut. Denn wenn draußen die Hölle los ist, verschwindet die Höllen | |
| drinnen. Heavy Metal verlagert die Hölle nach außen. Es ist ferrum et | |
| ignis, eine Heilmethode.» Genau das Richtige für eine 47-Jährige, die sich | |
| emotional in der Pubertät hängengeblieben fühlt. | |
| Großartig, wie sie daraus ihre Konsequenzen zieht: «Bis in ein | |
| Tattoo-Studio zu gehen, wäre zu weit gewesen, aber ich nahm mir vor, die | |
| Haare auch wieder lang zu tragen. Immerhin war ich nur unwesentlich jünger | |
| als diese Leute, und lange Haare sahen an mir noch nie gut aus.» | |
| «Höchster Welt- und Komplexitätserfassungsanspruch», so hat Rainald Goetz | |
| kürzlich im Interview mit der «Zeit» sein Romanverständnis definiert. Sein | |
| jüngstes Buch «Johann Holtrop», dessen Roman-Status ja ebenfalls in Frage | |
| gestellt worden war, las ich lustigerweise parallel zu Hanikas «Tanzen auf | |
| Beton». Während ich Goetz’ Einfühlung in tatsächlich komplexe, aber doch | |
| «innenlebenarme» Wirtschaftsfiguren teilweise mit größter | |
| Fremdheitsfaszination folgte, war Iris Hanikas Prosa von Anfang an | |
| vertrautes Terrain, von der Fußballfan-T-Shirt-Sinnestäuschung am Mainzer | |
| Hauptbahnhof über die fortgesetzt wissbegierige Introspektion bis hin zu | |
| der ästhetischen Konsequenz, sich unmöglich kohärent in der Summe seiner | |
| Teile zu erzählen. | |
| Nichts verbindet die beiden Romane, außer eben jenem «höchsten | |
| Komplexitätserfassungsanspruch», den man auf ein Ich genauso anwenden kann | |
| wie auf den «Abriss der Gesellschaft». Was würde eigentlich passieren, wenn | |
| all die Analysepatienten ihre Selbsterforschungsenergien nicht auf sich, | |
| sondern auf die Gesellschaft verwenden würden? Oder wenn alle «Macher», | |
| Wort- und sonstigen Führer sich endlich mal ihren Ich-Romanen widmen | |
| würden? | |
| Das letzte Kapitel bei Hanika heißt «Rückreise». Miniaturen von unterwegs, | |
| gnadenlos genau, kein Wort zu viel, der Profiblick der Flaneurin, aber mit | |
| allen Sinnen offen für die Welt. Grundton: heiter-melancholisch. Die Erde | |
| hat gebebt, jetzt hält sie wieder. Rückreise, wie gesagt. Es wird nicht die | |
| letzte Kur gewesen sein. | |
| 4 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
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