| # taz.de -- Roman über Armut in Brasilien: Noch mehr arme Schweine | |
| > Der in Brasilien hoch gelobte Roman „Es waren viele“ von Luiz Ruffato | |
| > beschreibt die Welt der Armen in São Paulo. Marginal sind dort die | |
| > Reichen. | |
| Bild: Momentaufnahme einer Drogenrazzia aus der Rocinha favela, Rio de Janeiro. | |
| „Brasilianische Literatur handelt von Mittelklasse, von Bauern und | |
| Marginalisierten, aber über den städtischen Arbeiter wird nicht | |
| geschrieben“, sagte der Journalist und Schriftsteller Luiz Ruffato über die | |
| Beweggründe für seinen Roman „Es waren viele Pferde“ bei einem | |
| Literaturgespräch in Porto Alegre. | |
| Ruffato ist Jahrgang 1961, kommt aus einfachen Verhältnissen und ist | |
| aufgewachsen in einem kleinen Städtchen im Süden des brasilianischen | |
| Bundesstaates Minas Gerais. Er wurde ausgezeichnet mit zwei renommierten | |
| brasilianischen Literaturpreisen und dem kubanischen Preis Casa de las | |
| Américas. | |
| Der Roman, den der Verlag Assoziation A jetzt in deutscher Übersetzung | |
| vorlegt, ist eine Folge von 69 Momentaufnahmen, zusammengesetzt aus | |
| Buchstaben, Wörtern und Sätzen: Geplauder im Taxi, Dialoge am | |
| Frühstückstisch, Berichte aus der Arbeitswelt, Tagträume und Fantasien, | |
| Selbstgespräche, Zeitungsausschnitte, Briefe, Nachrichten auf dem | |
| Anrufbeantworter, Stellen- und Kontaktanzeigen, Auflistung der Bücher in | |
| einem Regal. Poesie und Prosa, die bisweilen an den italienischen | |
| Neorealismus erinnern. | |
| Auf den ersten Blick ergeben sich zwischen den Momentaufnahmen und den | |
| darin beschriebenen Personen keine Beziehungen. Lässt man die 69 Snapshots | |
| indes durch die Finger laufen, als Daumenkino gewissermaßen, entsteht im | |
| Kopf ein imaginärer Film eines ganz bestimmten Tages, eines ganz bestimmten | |
| Ortes und einer ganz bestimmten zweigeteilten Gesellschaft: der 9. Mai | |
| 2000, ein Tag nur, in São Paulo – mit 19 Millionen Einwohnern die größte | |
| urbane Agglomeration der südlichen Halbkugel. | |
| ## Foucault beim Trödler | |
| Planet Global City, ein Satyricon, das all unsere Bedürfnisse nach klarer | |
| Definition, nach Entweder-Oder, nach Übersichtlichkeit und | |
| Unterscheidbarkeit, von Wesentlichem und Unwesentlichem, von Ursache und | |
| Wirkung, Erfolg und Misserfolg – kurz: die Ordnung der Dinge, die unsere | |
| Denk- und Verhaltensmuster bestimmt – durcheinanderwirbelt. | |
| In ihren ausgeleierten Pantoffeln mit den durchgetretenen Sohlen schlurft | |
| die Frau zum Tisch: „Was liest du, fragt sie gelangweilt. Er legt das Buch | |
| in den Schoß, ’Mikrophysik der Macht‘ von Foucault … Hab’s beim Trödl… | |
| gefunden.“ Foucault beim Trödler? | |
| Wir erleben heute die größte Völkerwanderung der Geschichte, eine vom Land | |
| in die Stadt. Der größte urbane Zuwachs vollzieht sich in Lateinamerika. | |
| Während noch 1960 nur 45 Prozent der brasilianischen Bevölkerung in Städten | |
| lebten, waren es 2010 bereits 86 Prozent. | |
| Luiz Ruffatos Roman „Es waren viele Pferde“, der in Brasilien von der | |
| Kritik als eines der bedeutendsten Werke zeitgenössischer Literatur | |
| gefeiert wurde, ist eine Annäherung an diese Realität, getragen vom Wunsch, | |
| Konturen erkennbar zu machen in einer entgrenzten, uferlosen Stadt. | |
| ## Hinter den Mauern | |
| Wie aber sieht diese Welt des urbanen Arbeiters in der Megapolis aus? São | |
| Paulo ist die größte Industriemetropole Lateinamerikas. 65 Prozent des | |
| Wohnraums sind irregulär. Und zwei stetig wachsende Bevölkerungsgruppen | |
| leben hinter Mauern: auf der einen Seite die Wohlhabenden, die sich in ihre | |
| luxuriösen und bewachten Minisiedlungen, die Kondominiums, zurückziehen und | |
| diese nur in ihrem Landrover verlassen, um zur Mall zu fahren oder die | |
| Tochter zur Ballettstunde zu bringen, und auf der anderen Seite die | |
| Gefängnispopulation. | |
| Und so beobachtet Ruffato die Welt der Armen, der Kriminellen, | |
| Arbeitslosen, Prostituierten, Straßenkinder, der Ratten und der | |
| Straßenköter, der Jugendlichen und der Mittelklasse, der korrupten | |
| Politiker, das Leben der Reichen und Mächtigen. Er porträtiert den Sex | |
| unserer Tage, religiöse Manifestationen, Verbrechen, Meinungen, Politik. | |
| Ruffatos Roman ist ein parteiisches Werk. Er gibt denen, die nichts zu | |
| melden haben, eine Stimme, den Namenlosen ein Gesicht und den Ausgegrenzten | |
| ihren Wert. Sie sind es, die den Laden schmeißen, mit ihrem Durchwursteln, | |
| ihrer sich durchs Chaos zappelnden Alltagsfindigkeit, ihrer unendlichen | |
| Leidensfähigkeit, mit der Zähigkeit, mit der sie immer wieder aufstehen – | |
| es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, denn Arbeitslosengeld gibt es in | |
| Brasilien nicht. | |
| „O marginal“, der Marginalisierte, in Europas aufgeklärten Kreisen eher ein | |
| Ehrentitel, ist in Brasilien ein Schimpfwort, das man niemandem an den Kopf | |
| werfen darf. Auf der mittelständischen Werteskala ganz oben steht der, der | |
| es geschafft, der Einfluss hat, der Geld und Posten verteilen kann – und | |
| vielleicht noch der Aufsteiger. | |
| Exklusion und Inklusion sind Schlüsselbegriffe der brasilianischen Politik- | |
| und Sozialdebatte. Aber Ruffato geht es nicht um Inklusion im Gestus des | |
| Schulterklopfens. Er hat das Buch der armen Schweine geschrieben. | |
| ## Die deutliche Sprache der Ausgegrenzten | |
| Und die kommen uns gleich beim Aufschlagen der ersten Seiten entgegen: | |
| „Noch mehr arme Schweine“, denkt der Möchtegern-Aufsteiger in seinem | |
| Sportwagen, der es bis zum Verwalter der schwarzen Kasse seines Chefs | |
| geschafft hat, über die, die in ihren Bussen, am frühen Morgen, zur Arbeit | |
| in São Paulo herangekarrt werden. | |
| Und dann hören wir dem alten Taxifahrer mit karger Rente zu, der immer noch | |
| durchs Verkehrschaos kutschieren muss und seinem Fahrgast im chronischen | |
| Stau die klassische Geschichte der innerbrasilianischen Migration erzählt: | |
| „São Paulo war wie eine Mutter zu mir, gleich nachdem ich hier angekommen | |
| bin, hatte ich Arbeit … nicht so wie heute, die können einem richtig | |
| leidtun, es gibt keine Arbeit für niemanden.“ | |
| Wir hören den alten Büroboten, dessen Frau ihn am Telefon beschwört, doch | |
| ja nicht in Anzug und Schlips heimzukommen, denn es gibt eine Schießerei | |
| vor dem Haus – „nicht dass mich noch einer verwechselt und mich fürn | |
| Polizisten hält“. | |
| Wir erleben den Prediger, der an der Praca da Sé seinen Herrn anfleht, er | |
| möge ihm das richtige Wort eingeben, um die Sünder zu erreichen: | |
| Prostituierte, Taschendiebe, in der Großstadt gestrandete Indianer, | |
| abgestürzter Mittelstand. Die Marginalen in diesem Roman sind die Reichen | |
| und Mächtigen. Es wird über sie berichtet, aber eine eigene Stimme haben | |
| sie nicht. Es ist eine Schau auf Fäulnis und Korruptheit, einfältigen | |
| Paternalismus und feudale Verkommenheit. | |
| ## Der Chef treibt es oben | |
| Da ist das Faktotum eines reichen und einflussreichen Politikers, der | |
| seinem Chef abwechselnd weibliche und männliche Prostituierte in die | |
| Präsidentensuite des Luxushotels kutschiert, dazu Drogen und Whisky besorgt | |
| – keinen amerikanischen, er mag die Amerikaner nicht – und sich, während | |
| sein Chef es da oben treibt, unten mit dem Barkeeper unterhält: „Und so | |
| reden wir über Politik, das macht mir Spaß und ihm auch.“ | |
| Doktor Abdala, der Protokollchef des neu gewählten Bürgermeisters, | |
| instruiert die Küchenmannschaft. „Zum Nachtisch eine Scheibe Ananas eiskalt | |
| ohne Strunk in sechs gleichen Teilen! Nachmessen, wenn nötig.“ Der Neue hat | |
| versprochen, „sich mehr um die Schwächeren in der Stadt zu kümmern“. | |
| So hat er dem Patenkind des Protokollchefs, Vaguinho, einen Job gegeben: | |
| „Jetzt ist er glücklich und wird respektiert. Seine Arbeit ist, Leute von | |
| einer Stelle zur anderen zu bringen, damit sie im richtigen Moment | |
| klatschen und den Namen des Bürgermeisters rufen. Vaguinho ist also eine | |
| Art Security und war schon ganz oft nah beim Bürgermeister und sagt: Ja, es | |
| ist absolut verboten, ihm im in die Augen zu schauen.“ | |
| ## Ein Treffen der Ehemaligen und Enttäuschten | |
| Gegen Ende des Romans schließlich „Unser Treffen“. Die Gruppe, „die | |
| seinerzeit (gegen Ende der Diktatur) in der Studentenbewegung aktiv war“: | |
| Paula, Anwältin, gescheiterte Ehe; Ana Beatriz, Journalistin, allein und | |
| verzweifelt; Rodolfo, Psychoanalytiker, dreimal verheiratet, nie glücklich; | |
| Pierre, der Arzt, der noch immer in der PCdoB, bei den Kommunisten ist. | |
| Marília, Tochter eines Klempners, die es bis zur Uni-Dozentin geschafft | |
| hat; Osvaldao, der mit Frau und Kindern nach Belo Horizonte gegangen ist, | |
| weil er São Paulo nicht ausgehalten hat. Nicht mehr anwesend sind Silveira, | |
| ein Loser, der sich umgebracht hat, und Lincoln, bei einem Überfall | |
| ermordet. | |
| Die letzte Momentaufnahme flüstert uns etwas ins Ohr. Ein nächtlicher | |
| Dialog zwischen Frau und Mann. Wo? Favela? Es ist der einzige Text im Roman | |
| ohne Titel. „He, Frau? Hörst du … Da wimmert jemand … Ach du lieber Gott! | |
| Wahrscheinlich mit dem Messer verletzt … Und wollen wir nichts tun … Tun? | |
| Was denn tun, Frau? Bleib still … Es hat aufgehört, das Wimmern … Wollen | |
| wir nachsehen? Nein! Morgen wissen wir es … Schlaf … mach schon.“ | |
| ## Monologe, Dialoge und Tetraloge | |
| Der Roman von Luiz Ruffato ist ein brasilianischer Roman. Er ist prall voll | |
| mit Monologen, Dialogen, Tetralogen. Kommunikation, Offenheit, Interaktion. | |
| Auch dies eine Metaebene des Romans, auch dies eine Erzählung von | |
| Brasilien. Denn die Armen bewältigen ihre Lebenswirklichkeit narrativ, | |
| nicht analytisch. | |
| So bringen sie Ordnung in ihre Dinge. Wer in diese Erzählwelt einsteigen | |
| will, wer etwas verstehen will von der heutigen Realität Brasiliens, für | |
| den ist Ruffatos Roman Pflichtlektüre – aber das ist ein unbrasilianisches | |
| Wort. Wer nur hier und da ein paar Seiten schmökern will, ist auch gut | |
| bedient. | |
| ## Luiz Ruffato: „Es waren viele Pferde“. Aus dem brasilianischen | |
| Portugiesisch von Michael Kegler. Assoziation A, Hamburg/Berlin 2012, 160 | |
| Seiten, 18 Euro. | |
| ## Der Autor liest unter anderem am Dienstag, 13. November, in Frankfurt am | |
| Main, am Mittwoch, 14. November, in Berlin und am Donnerstag, 15. November | |
| in München. | |
| 14 Nov 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Lutz Taufer | |
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