Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Hip Hop aus Brasilien: Rap mit Salonkultur
> Der brasilianische Rapper Criolo schafft mit dem Album „Nó Na Orelha“
> endgültig den Durchbruch. Seine poetischen Wurzeln: die Salonkultur von
> São Paulo.
Bild: Hat ein zärtliches und eindringliches Album geschrieben: Criolo.
Der Song ist weich und verführerisch, der Text umso schärfer. „São Paulo
ist ein Bouquet“, singt Criolo. „Bouquets, das sind tote Blumen / Schön f�…
dich arrangiert.“ Mit sanfter Stimme setzt er seiner Heimatstadt ein
Denkmal, als wäre sie ein Friedhof mit vor sich hinwelkenden Blumenkränzen.
„Hier kommt keiner in den Himmel.“
Sein zärtliches und eindringliches Album „Nó Na Orelha“ ist aber auch eine
Liebeserklärung an eine Kultur des Widerstands, in der Criolo gelernt hat,
hier zu überleben.
Der brasilianische Musiker Caetano Veloso, Altmeister des Tropicalismo der
sechziger und siebziger Jahre, nennt Criolo heute die „wichtigste Figur in
der brasilianischen Popmusik.“
Criolo kommt aus der Schule des Rap von São Paulo, die maßgeblich von den
Racionais MC’s geprägt wurde. Anders als beispielsweise in der Entwicklung
von Baile Funk in Rio wollten die Musiker in São Paulo puren HipHop machen,
streng, ernst und politisch. Die hedonistische Partykultur von Rios Hügeln
und Stränden passte nicht in ihre Betonwüste.
## Rhythmen und Einflüsse aus Funk, Samba und Reggae
Aber Criolos neues Album ist weniger streng als die der ersten 20 Jahre
seiner Karriere. Es bringt die Grenzen dieser Tradition zum Vibrieren. Wut
und Härte wechseln sich mit anderen Stimmungen ab, Rhythmen und Einflüsse
aus Funk, Samba, Reggae fließen wie selbstverständlich in die Songs, in
denen Criolo nun die Sensibilität seiner Stimme voll entwickelt.
Dabei hätte er nach seinem Debütalbum 2006 fast das Handtuch geworfen. „Ich
dachte, es ist Zeit, es nach 20 Jahren im Rap sein zu lassen. Vielleicht
hab ich schon alles gegeben.“ Doch dann brachte ihn ein Freund mit den
Produzenten Marcelo Cabral und Ganjaman zusammen. Sie waren an Criolos
Songs interessiert. „Viele sind schon zehn oder 15 Jahre alt“, erzählt
Criolo. „Es war ein Moment, in dem mir Leute geholfen haben, diese Songs
endlich aufzunehmen.“
Anfangs wollte er auf dem neuen Album gar nicht mehr rappen, aber seine
Produzenten haben ihn überzeugt, dass erst beides zusammen Criolos
Bedeutung in der brasilianischen Musik heute klar macht. Criolo hat schon
als Kind seine poetischen Fähigkeiten entdeckt. Und die waren im HipHop
erst mal am Besten aufgehoben.
Andere Kulturangebote gab es kaum in den sogenannten Zonen der Peripherie.
So werden die riesigen, informell entstandenen Stadtteile der
Millionenmetropole São Paulo meist genannt. Sie sind mit der Migration der
letzten 30, 40 Jahre entstanden, die Armen vom Land kamen zu den neuen
Fabriken in Brasiliens industriellem Zentrum auf der Suche nach einem
besseren Leben.
Auch Criolos Familie kam in den Siebzigern aus dem Nordosten, die Eltern
hatten kaum Schulbildung. Als sich Criolo fürs Gymnasium anmeldet, schrieb
sich seine Mutter in derselben Klasse ein. Sie machten zusammen Abitur.
Während ihr Sohn dann die Uni schmiss, studierte sie Literatur und
Philosophie und führt heute ein philosophisches Café – an der Peripherie,
in ihrem alten Viertel. Sie hat den Weg des Künstlers nie infrage gestellt,
auch nicht den Weg über den HipHop.
## Dichter und Schriftsteller rund um den Rap
Criolo konnte dort seine poetischen Fähigkeiten so fulminant entwickeln,
weil sich rund um den Rap auch Dichter und Schriftsteller versammelten. Die
Leute hatten zwar keine Verlage, keine Zugänge zum offiziellen
Literaturbetrieb, drängten aber mit den Rappern auf die Bühne.
Vor gut zehn Jahren haben einige dann die ersten Saraus geöffnet. Sarau
heißt Salon. Das klingt in unseren Ohren nach der großbürgerlichen Kultur
des 19. Jahrhunderts, nach literarischen und philosophischen Salons, zu
denen die Reichen einluden, wenn sie hinter verschlossenen Türen mit
Künstlern und Philosophen radikale Ideen austauschen wollten.
Zu den Saraus an der Peripherie von São Paulo braucht man heute freilich
keine Einladung, man geht einfach in die Bar an der Ecke, in der sie einmal
die Woche stattfinden. Trotzdem ist die Assoziation mit der alten
Salonkultur nicht falsch – denn sich zum Reden, Philosophieren, Dichten und
Träumen öffentlich zu versammeln, ist heute nicht weniger radikal als die
Diskurse des Bürgertums in der Aufklärung.
Criolos Album „Nó Na Orelha“, das ganz unterschiedliche emotionale Höhen
und Tiefen berührt, erinnert an diese Nächte, in denen sich die Leute
versammeln, um gegen Angst und Vereinzelung, Traumatisierung und Verhärtung
anzusingen und anzudichten. Bis heute lässt er sich in den Saraus blicken,
sitzt auf billigen Plastikstühlen und improvisiert einen Song auf der
Gitarre, wenn er mit dem Mikro an der Reihe ist.
## Criolo, „Nó Na Orelha“ (Sterns/Rough Trade); live, 17. November, Berlin
„Gretchen“
17 Nov 2012
## AUTOREN
Astrid Kusser
## TAGS
Brasilien
Rap
São Paulo
HipHop
Musik
Homosexuelle
São Paulo
## ARTIKEL ZUM THEMA
Knast-HipHop: „Schön, wenn's draußen regnet“
Die Rapper von GittaSpitta haben ein Album über ihre Erfahrungen im
Gefängnis aufgenommen. „9 qm“ ist ein Mix aus Musik und Hörspiel.
Dubstep aus London: Außerhalb der eigenen Komfortzone
Der Londoner Dubstep-Veteran Mala macht Musik mit kubanischen Kollegen.
Dabei entstand „Mala in Cuba“, ein recht konservatives Album.
„Parada Gay“ in Rio: Tanzen gegen Diskriminierung
Bei 30 Grad zog die „Parada Gay“ über die Avenida an der Copacabana in Rio
de Janeiro. Sie protestierten gegen die Diskriminierung von Homosexualität.
Roman über Armut in Brasilien: Noch mehr arme Schweine
Der in Brasilien hoch gelobte Roman „Es waren viele“ von Luiz Ruffato
beschreibt die Welt der Armen in São Paulo. Marginal sind dort die Reichen.
Rios erstes Favela-Kino: Es geht nicht nur um Sicherheit
Die Armenviertel in Rio werden auch mit Bildung und Kultur befriedet. Stolz
wird den Gästen des Filmfestivals das erste Favela-Kino vorgeführt.
Buch über Gangsta-Rap: Bourdieu erklärt Bushido
Der Gangster, seine Hood, das Ghetto, der soziale Brennpunkt: Die
Anthologie „Deutscher Gangsta-Rap“ betrachtet diese Phänomene
wissenschaftlich.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.