# taz.de -- Rios erstes Favela-Kino: Es geht nicht nur um Sicherheit | |
> Die Armenviertel in Rio werden auch mit Bildung und Kultur befriedet. | |
> Stolz wird den Gästen des Filmfestivals das erste Favela-Kino vorgeführt. | |
Bild: Besucher des Cine Carioca in der Favela Complexo do Alemão von Rio de Ja… | |
RIO DE JANEIRO taz | Wie stellen Sie sich eine Favela vor? Düster und | |
heruntergekommen, ohne Infrastruktur, mit steilen Treppen, halbfertigen | |
Häusern, offenen Abwasserkanälen und aus dem Nichts durch die Luft | |
pfeifenden Kugeln? Als wir am Freitagvormittag in der Favela Complexo do | |
Alemão im Norden von Rio de Janeiro aus dem Wagen steigen, bietet sich ein | |
ganz anderes Bild. | |
Wir halten an der Praça de Conhecimento, dem Platz des Wissens. Rechter | |
Hand steht ein auffälliges, blau gestrichenes Gebäude, das mit | |
Wandmalereien versehen wurde. Daneben steht ein funkelnagelneues | |
Schulungszentrum, in dem Jugendliche Computerkurse belegen. | |
In der Mitte des Platzes eine Art Veranda, die grünen Ranken fehlen noch, | |
darunter Bänke und Tische mit Schachbrettern, links ein weiterer Neubau. Es | |
ist das Cine Carioca, das erste Kino, das je in einer Favela eröffnet | |
wurde. Zehn weitere Kinos, so will es der ehrgeizige Plan, werden bis 2016 | |
ihre Pforten in den Favelas und in den armen Wohngegenden von Rio de | |
Janeiro öffnen. | |
Wir, das ist eine kleine Gruppe von Journalisten, Filmschaffenden und | |
Kulturfunktionären, allesamt Gäste des Internationalen Filmfestivals von | |
Rio, das am heutigen Donnerstag zu Ende geht. Der französische Regisseur | |
Leos Carax, dessen jüngster, furioser Film „Holy Motors“ vor ein paar Tagen | |
Brasilien-Premiere feierte, ist mit von der Partie, außerdem ein | |
Filmrestaurator des British Film Institute, der die Vorführung des | |
Stummfilms „Pleasure Garden“ von Alfred Hitchcock begleitet hat, ein | |
Kollege vom Guardian und die Korrespondentin von Associated Press. | |
## Herausforderung: „Kulturprodukte zugänglich machen“ | |
In Empfang nimmt uns Sérgio Sá Leitão, ein Mann um die 40 und Direktor von | |
Riofilme, der umtriebigen Filmförderanstalt des Bundesstaates Rio de | |
Janeiro. Für ihn ist das am 24. Dezember 2010 eröffnete Cine Carioca ein | |
Vorzeigeprojekt. Es besitzt 3-D-Technologie. 2011 wurden 74.000, im | |
laufenden Jahr 65.000 Eintrittskarten verkauft. Umfragen zufolge hätten 91 | |
Prozent der Besucher angegeben, zum ersten Mal in ihrem Leben ein Kino | |
betreten zu haben. | |
Wirtschaftlich trägt sich das Cine Carioca von allein, Zuschüsse sind nicht | |
nötig. Riofilme organisiert Schulvorführungen für 15.000 Kinder im Jahr. | |
Das Ziel sei, diejenigen an das Kino heranzuführen, zu deren Gewohnheiten | |
es nicht zählt, sich gemeinsam mit anderen in dunklen Räumen Filme | |
anzusehen, sagt Sá Leitão. Die brasilianische Gesellschaft sei von | |
„sozialer Ausgrenzung“ geprägt, und das zeige sich eben auch in der Art und | |
Weise, wie mit Kultur umgegangen wird. „Die allererste Herausforderung für | |
uns“, sagt Sá Leitão, „ist es, Kulturprodukte zugänglich zu machen.“ | |
Als wir das Kino betreten, läuft gerade eine Schulvorführung. Die neun | |
Reihen sind voll besetzt mit Kindern, die gebannt auf die Leinwand starren, | |
manche harren auf den Treppen am Rand aus, die meisten haben Popcorn und | |
Softdrinks in der Hand, die Lehrerinnen zischen den tuschelnden Kindern zu, | |
sie mögen leise sein. Es läuft ein Handpuppenfilm: „31 minutos: O filme“, | |
eine Art brasilianische Schwester der „Sesamstraße“. | |
Die Handlung kreist um ein TV-Studio, dem Nachrichtensprecher, einem | |
geringelten, strumpfförmigen Wesen mit Knopfaugen, wird übel mitgespielt, | |
und der Produzent der Sendung, eine weiße flauschige, ebenfalls | |
strumpfförmige Puppe, muss eines Missverständnisses wegen seinen Posten | |
räumen. Am Nachmittag steht „Hotel Transsilvânia“ auf dem Programm, gefol… | |
vom Disney-Animationsfilm „Tinkerbell. O segredo das fadas“. Am Abend gibt | |
es „Resident Evil: Retribução“, was die deutsche Produktionsfirma | |
Constantin sicherlich freut. | |
## „Es ist ja ein Prozess" | |
Das Cine Carioca und die Kinos, die noch enstehen sollen, sind Teil des | |
ambitionierten Programa de Aceleração do Crescimento (Programm zur | |
Beschleunigung von Wachstum), das die Befriedung der Favelas zum Ziel hat. | |
Diese Befriedung ist in Rio, mit Blick auf die Fußballweltmeisterschaft in | |
zwei und die Olympischen Spiele in vier Jahren, in vollem Gange. | |
Laut Sá Leitão lebten mittlerweile 50 Prozent der Favela-Bewohner in | |
Ansiedlungen, in denen die Drogenkartelle die Kontrolle an Spezialeinheiten | |
der Polizei verloren haben. Früher, sagt Sá Leitão, hätten Ober- und | |
Mittelschicht mit Gleichgültigkeit auf die Armen geblickt. Solange die | |
Gewalt in den Favelas blieb, hätten sich die Bewohner von Ipanema, | |
Copacabana oder Botafogo nicht weiter am Status quo gestört. Doch der | |
Anschaffungskriminalität wegen wurde es auch in den besseren Vierteln | |
ungemütlich. | |
„Es geht nicht nur darum, für Sicherheit zu sorgen“, sagt Sá Leitão, | |
sondern eben auch für Schulen und kulturelle Einrichtungen. Und für die | |
Müllabfuhr. | |
Als ich frage, ob sich Phänomene wie Korruption und Machtmissbrauch in den | |
Reihen der Polizei mit der Favela-Befriedung erledigt hätten, lautet die | |
Antwort: „Es ist ja ein Prozess.“ Natürlich werde nicht alles von heute auf | |
morgen besser. Aber immerhin gibt es inzwischen eine Polizeischule, die dem | |
Nachwuchs vermittelt, was Menschenrechte sind. | |
## Früher No-go-Area, heute Sightseeing-Progaramm | |
Rio de Janeiro ist im Begriff sich zu ändern. Das Zentrum des Filmfestivals | |
ist in einem ehemaligen Lagerhaus untergebracht, das zum Hafengelände | |
gehört, eine übel beleumundete Gegend. Die Trasse einer Schnellstraße, die | |
über die Köpfe der Festivalbesucher hinwegführt, macht sie nicht | |
einladender. Überall ragen Bauzäune auf, hinter denen die „Cidade Olimpica�… | |
entstehen wird. | |
„Wiederbelebung des Hafens. Eine neue Stadt wird geboren“ steht auf | |
Schildern. An dem Abend, an dem Hitchcocks „Pleasure Garden“, begleitet von | |
einem Orchester, bei einer Open-Air-Vorführung am Strand von Copacabana | |
präsentiert wird, ist der Besucherandrang groß. Die Menschen wirken | |
entspannt, vergnügt und voller Vorfreude, als sie sich im Sand | |
niederlassen. | |
Vor sieben Jahren, sagt eine regelmäßige Besucherin des Festivals, habe es | |
schon Kino am Strand gegeben, aber das Gefühl von Unsicherheit sei groß | |
gewesen. Und waren die Favelas früher No-go-Areas für Touristen, gibt es | |
für Wagemutige dort inzwischen sogar Hotels. Geführte Touren durch die | |
illegalen Ansiedlungen gehören fast so sehr zum Programm eines | |
Rio-Besuchers wie die Gondelfahrt zum Zuckerhut. | |
An der Straße nach Rocinha, einer Favela im Süden der Stadt, verkaufen | |
Händler Kunsthandwerk, darunter Aquarelle, auf denen die | |
übereinandergestaffelten Häuser pittoresk aussehen. Die Preise für die | |
Immobilien steigen an, 30.000 Dollar kostet im Augenblick eine | |
Zweizimmerwohnung in Rocinha. Wer jetzt ein Haus hat, gibt es nicht mehr | |
her. | |
## Ambivaltente Programmierung | |
Zurück zum Cine Carioca. Filmgeschichte, Weltkino oder Arthouse-Filme | |
fehlen in der Gestaltung des Programms, was angesichts der überaus reichen | |
brasilianischen Filmkultur bedauerlich ist. Warum wird den Heranwachsenden | |
kein Film von Glauber Rocha gezeigt, dem großen Erneuerer des | |
brasilianischen Kinos? Warum wird nicht ab und zu einer der jüngeren, | |
unkommerziellen und überaus sehenswerten Filme präsentiert, die zur Zeit | |
abseits der Metropolen, in den Bundesstaaten Minas Gerais, Pernambuco und | |
Ceará, entstehen – etwa „Girimunho“ (2011) von Clarissa Campolina und | |
Helvécio Marins? | |
Wenn man in der Programmierung auf Eingängigkeit und Massengeschmack setzt, | |
so ist das zumindest ambivalent. Denn es ist schwer zu sagen, ob man auf | |
diese Weise einfach nur pragmatisch agiert und denen, denen das Kino bisher | |
nichts bedeutet, mit einem nicht allzu anspruchsvollen Angebot den Einstieg | |
ermöglicht. Oder ob man aus einer allzu vorauseilenden Anpassung an einen | |
nur angenommenen, aber nie verifizierten Zuschauergeschmack heraus die | |
Filme programmiert, die nichts von ihrem Publikum verlangen. | |
Letzteres wäre im besseren Fall eine Projektion, im schlimmeren Fall | |
Arroganz: Filmkunst wäre dann eben doch nur etwas für Bourgeoisie und | |
Boheme, nichts für die Favela. | |
Es fällt auf, wie oft Sá Leitão von „Kulturkonsum“ und „Produkten“ s… | |
Erst auf Nachfrage sagt er, es gehe natürlich auch darum, die „kritische | |
Reflexion“ anzuregen. Man wäre übertrieben skeptisch, wollte man dem Cine | |
Carioca zum Vorwurf machen, es diene vor allem dazu, der Filmindustrie neue | |
Kundenkreise zu erschließen. | |
Trotzdem mischt sich in den Enthusiasmus eine bittere Note, weil man sich | |
des Eindrucks, dass das ehrgeizige Projekt hinter seinen Möglichkeiten | |
bleibt, nicht ganz erwehren kann. Am Ende unseres Besuchs frage ich Leos | |
Carax, ob er sich vorstellen könne, dass „Holy Motors“ im Cine Carioca | |
läuft. Eher nicht, sagt er, denn es würden ja nur synchronisierte Filme ins | |
Programm genommen. „Aber ich würde den Kindern gern einen Film von Chaplin | |
zeigen.“ | |
11 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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