| # taz.de -- Olympia 2016 in Rio: Eine Favela leistet Widerstand | |
| > Wo sich jetzt noch eine Favela befindet, soll der Olympiapark für die | |
| > Spiele 2016 in Rio entstehen. Doch die Bewohner wollen nicht weg. Sie | |
| > mögen ihren Stadtteil. | |
| Bild: Breite Straßen, gut ausgebaute Häuser: Vila Autódromo ist keine Favela… | |
| RIO DE JANEIRO taz | Ein, zwei Feuerwerksraketen, mehr nicht. Vielleicht | |
| werden einige Bewohner der Favela die Abschlussparty der Olympischen Spiele | |
| am Sonntag vor dem Fernseher verfolgen, auf Plastikstühlen unter den | |
| Mangroven, mit ein paar Bieren und Grillspießen. Sie werden in | |
| Brasilien-Shirts vor dem Fernseher sitzen. In London wird „See you in Rio“ | |
| auf den Shirts der brasilianischen Sportler stehen. Ein bisschen feiern | |
| werden sie schon, trotz allem. | |
| Seit drei Jahren herrscht Aufbruchstimmung in Rio. Damals wurde | |
| entschieden, dass Rio sowohl das Finale der Fußball-WM 2014 als auch die | |
| Olympischen Spiele 2016 austragen würde. Die französische Zeitung Le Figaro | |
| nannte das den „Tag der Wende“ für Rio, nach Jahrzehnten des Niedergangs, | |
| der Korruption und der Gewalt. Erst vor einem Jahr erfuhren die Bewohner | |
| der Vila Autódromo dann, dass dies auch ihr Ende bedeuten könnte. An der | |
| Stelle, wo jetzt ihre Favela steht, soll bis 2016 [1][der neue Olympiapark] | |
| gebaut werden, mit Wettkampfstätten, Medienzentrum und einem | |
| Olympiastützpunkt. | |
| Im ersten Entwicklungsplan war die Favela noch eingezeichnet. Später teilte | |
| ihnen die Stadt mit, dass ihr Gebiet bis spätestens 2014 geräumt und alle | |
| Bewohner umgesiedelt werden sollten. Da beschlossen sie, sich zu wehren, | |
| olympischer Traum hin oder her. Andere Favelas wurden inzwischen bereits | |
| abgerissen, um Platz zu machen für neue Busstrecken, für WM-Quartiere und | |
| den Olympiapark. Die Favela Vila Autódromo will bleiben. Für die sozialen | |
| Bewegungen ist sie zum Symbol des Widerstands geworden – auch weil sie gar | |
| nicht wie eine Favela aussieht. | |
| Wer die schattige Hauptstraße des ehemaligen Fischerdorfs betritt, fühlt | |
| sich inmitten einer Millionenstadt plötzlich wie auf dem Land. Die | |
| ausladenden Straßen sind geradlinig. An ihnen entlang reihen sich kleine | |
| zweistöckige Häuser, umgeben von Vorgärten und Garagen. Etwa 1.500 Menschen | |
| wohnen hier. Die Flachdächer sind zu gekachelten Terrassen ausgebaut | |
| worden. Im Erdgeschoss gibt es Werkstätten, kleine Kneipen oder Läden. | |
| Altair Guimarães führt gern durch diese Vorzeige-Favela, er ist einer der | |
| beiden Sprecher der Bewohnervereinigung und lebt seit 17 Jahren hier. Seine | |
| fünfjährige Tochter wuselt während des Spaziergangs um die Gruppe herum. | |
| Keiner möchte wegziehen. „Hier ist alles entspannt, es gibt keine | |
| Drogenbanden, keine Milizen. Das einzige Problem, das wir haben, ist die | |
| Stadtverwaltung“, sagt Altair mit einem schmerzlichen Lächeln. | |
| Die Favela war immer zu klein, um für die organisierte Kriminalität | |
| interessant zu sein. Eine starke Bewohnervereinigung verhinderte ihrerseits | |
| den chaotischen Zuzug von Neulingen. Mit der „Rückeroberung“ der Favelas, | |
| die von der Stadtregierung Rios 2008 ausgerufen wurde, hat sie nichts zu | |
| tun. | |
| ## Autódromo ist kein „City of God“ | |
| Eine der Bewohnerinnen ist Daniela. Sie ist 35 Jahre alt und hat einen | |
| kleinen Imbiss, bei ihr gibt es als Tagesmenü das brasilianische | |
| Nationalgericht Reis mit braunen Bohnen und dazu Chuchu. Die Preise | |
| gleichen denen in der Stadt. Nebenbei baut sie die obere Etage des Hauses | |
| für ihre Enkel aus. „Ich vertraue darauf, dass wir hier bleiben dürfen. Wir | |
| leben doch nicht mehr in Zeiten der Diktatur, wo sie dein Haus einfach | |
| abreißen konnten.“ Keiner der in der Nachbarschaft scheint einen Plan B zu | |
| haben, für den schlimmsten Fall. | |
| Ein paar Mal hält die Gruppe an, weil zerknülltes Papier auf dem Boden | |
| liegt. Dann bittet Altair seine Tochter, es in den Papierkorb zu werfen, | |
| was diese meistens auch tut. Langsam kehren die Bewohner von der Arbeit | |
| zurück und begrüßen ihren Sprecher. Weil es langsam dunkel wird, schaltet | |
| Altair die Straßenbeleuchtung ein, von Hand, mit einem kleinen weißen Knopf | |
| unterhalb der Laterne. | |
| Nichts entspricht hier der üblichen Vorstellung von einer Favela, wie sie | |
| in Filmen wie „City of God“ oder „Elitetruppe“ gezeigt wird. Die Favela | |
| Cidade de Deus, die den Stoff für den Film „City of God“ geliefert hat, | |
| liegt nur sieben Kilometer von hier entfernt, und doch liegen Welten | |
| zwischen beiden Orten. Die Bewohner der Vila Autódromo wissen, wie wichtig | |
| Ordentlichkeit für ihr Überleben ist. Sie kämpfen gegen das | |
| gesellschaftliche Stigma der chaotischen Favela. | |
| Altair erklärt, was die krakeligen Buchstaben „SMH“ bedeuten, die in blauer | |
| Sprühfarbe auf vielen Häusern prangen. Es sei die Abkürzung für die | |
| kommunale Wohungsbaubehörde, die auf diese Weise alle Häuser kennzeichne, | |
| die in ein Register aufgenommen werden, das später für die bürokratische | |
| Regulierung des Abrisses diene. Fast an jedem zweiten Haus finden sich | |
| solche Markierungen. Man muss diese Zeichen sehen, um den Ernst der Lage zu | |
| begreifen. | |
| Von den Graffitis wandert der Blick zu den riesigen Apartmentblöcken, die | |
| die Favela umschließen und wo langsam die Lichter angehen. Das sind | |
| geschlossenen Wohnanlagen für Besserverdienende. Gegenüber das „Origami“, | |
| nebenan das „Quality Green“. Auf dem Parkplatz davor steht eine rosafarbene | |
| Stretchlimousine. Der Stadtteil Barra da Tijuca ist aus Sicht der meisten | |
| seiner wohlhabenden Bewohner kein Ort für eine Favela. | |
| ## Stadtregierung und Privatfirmen | |
| Und nicht nur die Nachbarn sehen das so. Auch wirtschaftliche Interessen | |
| spielen eine Rolle. Die drei großen Immobilienunternehmen im Stadtviertel | |
| sind gegen die Favela und sie haben großen politischen Einfluss. Wenn die | |
| Olympischen Spiele 2016 vorbei sind, wird ein Viertel des Olympiaparks als | |
| Sportanlage erhalten bleiben. Den Rest darf das Unternehmenskonsortium, das | |
| den Olympiapark für die Stadt errichtet, zu luxuriösen Wohnanlagen umbauen. | |
| Diese Form der Partnerschaft zwischen Stadtregierung und Privatunternehmen | |
| war eine der Bedingungen, unter denen Rio die Spiele bekommen hat. Man | |
| wollte ein nachhaltiges Konzept fördern, das die öffentlichen Haushalte | |
| entlastet. | |
| Ein weiteres Argument für die Nachhaltigkeit von „Rio 2016“ war der des | |
| Umweltschutzes. Im Dossier, das die Stadt für ihre Olympiabewerbung | |
| eingereicht hat, verspricht sie, die Lagune von Barra da Tijuca zu säubern. | |
| Da die Favela Vila Autódromo bis heute nicht an das städtische Abwassernetz | |
| angeschlossen ist, fließen die meisten Abwässer in die Lagune. Aus Sicht | |
| der Stadtverwaltung ist der Abriss einer verhältnismäßig kleinen Favela zu | |
| verkraften, um die großen Probleme der Stadt zu lösen. | |
| [2][Die Gegner des Konzepts] sind bewaffnet mit Kameras und online gut | |
| organisiert. Sie haben inzwischen ein eigenes Dossier veröffentlicht, in | |
| dem sie auf die verschiedenen Menschenrechtsverletzungen hinweisen, die aus | |
| ihrer Sicht im Namen von WM und Olympischen Spielen begangen werden. Die | |
| Zerstörung von Favelas steht dabei im Vordergrund. Auf etwa 5.600 Personen | |
| beziffern sie die Zahl der bereits Vertriebenen, 16.000 seien von einer | |
| Räumung bedroht. | |
| Aber auch sie benennen weitergehende Probleme, die in der Freude über die | |
| sportlichen Großereignisse leicht vergessen würden, so etwa die | |
| Begünstigung der Korruption im Land sowie die Unterhöhlung der | |
| brasilianischen Demokratie durch olympische „Sondergesetze“. | |
| Die Stadtverwaltung hat inzwischen auf die Kritik reagiert und versprochen, | |
| dass alle Bewohner der Vila Autódromo vor dem Abriss der Favela | |
| Ersatzwohnungen in einer nahe gelegenen Wohnanlage erhalten würden. Wer das | |
| nicht wolle, könne eine angemessene finanzielle Entschädigung bekommen. Der | |
| Leiter der kommunalen Wohnungsbaubehörde Jorge Bittar kündigte an, bei dem | |
| Abriss der Favela würden die „Qualitätsstandards“ eingehalten. | |
| Doch das genügt den Bewohnerinnen und Bewohnern der Vila Autódromo nicht. | |
| Sie haben in dieser Woche einen eigenen Entwicklungsplan für ihre Favela | |
| vorgelegt, in Zusammenarbeit mit zwei großen Universitäten. Er soll allen | |
| Anforderungen der Olympiabewerbung gerecht werden. Zum Beispiel sollen | |
| Häuser abgerissen werden, die zu nah an der Lagune gebaut wurden. Für sie | |
| soll Ersatz innerhalb der Favela geschaffen werden, indem die dortigen | |
| Häuser nach oben ausgebaut werden. Eine Umsiedlung würde dadurch | |
| überflüssig. | |
| Die Bewohner hoffen durch den Plan die Stadt zum Einlenken zu bewegen. | |
| Carlos Vainer von der Bundesuniversität Rio de Janeiro formuliert es so: | |
| „Wenn dieser Plan Erfolg hat, dann wird die moralische Ausstrahlung auf | |
| andere bedrohte Stadtviertel enorm sein. Die Favela Villa Autódromo könnte | |
| so etwas werden wie unser gallisches Dorf, das dem Eindringling getrotzt | |
| hat – und gewonnen.“ | |
| 12 Aug 2012 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.aecom.com/News/Sports/Winning+Vision+for+the+Rio+Olympics | |
| [2] http://www.portalpopulardacopa.org.br/ | |
| ## AUTOREN | |
| Carsten Janke | |
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