| # taz.de -- London nach Olympia: Ein britisches Sommermärchen | |
| > Vom Medaillenspiegel bis zum Nahverkehr: Bei Olympia lief in London alles | |
| > besser als befürchtet. Der konservative Bürgermeister Johnson gilt nun | |
| > als Mann der Zukunft. | |
| Bild: Hat mehr zu bieten als Sport: der Osten Londons | |
| LONDON taz | Am meisten staunen wohl die Briten selbst. Die Gastgeber | |
| feiern euphorisch den dritten Platz ihres „Team GB“. Schotten schwenken | |
| Union-Jack-Fahnen. Die Medien erteilen Bestnoten. | |
| Was wurde im Vorfeld nicht alles an möglichen Desastern vorweggenommen: | |
| Verkehrschaos auf den Straßen, Zusammenbruch des öffentlichen Nahverkehrs. | |
| Nichts davon traf ein, sogar das Wetter spielte mit. Dass kurz vor | |
| Olympia-Beginn Tausende Soldaten einspringen müssen, um den Personalmangel | |
| bei der privaten Sicherheitsfirma G4S für Eingangskontrollen und | |
| Ordnerdienste zu kompensieren, erwies sich als gelungener Coup: Noch mehr | |
| wurden die Spiele zur nationalen Angelegenheit, und die Briten trauen ihrer | |
| Armee sowieso mehr zu als einem Haufen Wachschützern. | |
| [1][Soldaten füllten schließlich auch die leeren Sitzplätze] in den | |
| Wettkampfarenen, die eigentlich von Angehörigen der IOC-Mitglieder oder | |
| Sponsoren hätten eingenommen werden sollen. Eine schnelle | |
| Befriedungsstrategie angesichts der vielen Sportfans, die zuvor vergeblich | |
| übers Internet Tickets gesucht hatten. Dafür strömten Hunderttausende zu | |
| den eintrittsfreien Wettbewerben wie dem Straßenradrennen, dem Triathlon | |
| und zuletzt dem Marathonlauf. | |
| Vor der Kulisse [2][klassischer Londoner Sehenswürdigkeiten] wurden die | |
| Briten dem Ruf gerecht, die [3][enthusiastischsten Sportzuschauer der Welt] | |
| zu sein, die auch Läufer, Radler und Schwimmer aus Äthiopien, von den | |
| Bahamas oder Indonesien frenetisch anfeuerten. | |
| ## Keine Loser-Nation mehr | |
| Doch ist es vor allem das zahlreiche Gold für die britischen Olympioniken | |
| selbst, die in den Augen der Meinungsmacher das Land von seinem Selbstbild | |
| der Loser-Nation befreit hat. Man kann es völlig gegensätzlich | |
| interpretieren: Der Spitzenplatz im Medaillenranking sei dank zahlreicher | |
| Siege von [4][AthletInnen mit Migrationshintergrund] Ausweis für das | |
| Funktionieren des multikulturellen Zusammenlebens auf der Insel, behauptet | |
| der linksliberale Guardian. Der konservative Kommentator Charles Moore im | |
| konservativen Daily Telegraph hingegen gibt sich imperial selbstzufrieden, | |
| denn nun sei bewiesen, was für ein weltweites Vorbild das Vereinigte | |
| Königreich sei. | |
| In Presse und Fernsehen wird nun fast flehentlich an die Briten appelliert, | |
| ihre heitere Olympia-Laune doch bitte über den Augenblick zu retten. Als ob | |
| damit alle Probleme, die nach zwei Wochen Goldrausch demnächst wieder | |
| stärker zu Tage treten werden, weggewischt werden könnten. Zum Beispiel das | |
| der lahmenden Wirtschaft oder die zunehmend schlechte Stimmung in der | |
| konservativ-liberalen Koalitionsregierung. | |
| Während der konservative Premierminister David Cameron das olympische Hoch | |
| kaum genießen konnte, profitiert sein Parteikollege, Londons Bürgermeister | |
| Boris Johnson, umso mehr. Der bullige 48-Jährige mit dem ungekämmten | |
| Blondschopf schien während der 17 Olympiatage stets auf Sendung zu sein, | |
| keine Kamera und kein Mikro auszulassen. | |
| Johnson, der 1964 in New York geboren wurde und ebenso wie David Cameron an | |
| der privaten Eliteschule Eton und dann an der Eliteuniversität Oxford | |
| ausgebildet wurde, hat es anders als Cameron verstanden, aus seinem | |
| Oberklasse-Habitus den Hang zu kontroversen Auftritten und lockeren | |
| Sprüchen zu bewahren. Dieser Tage gab es davon reichlich Kostproben. Für | |
| Johnson glänzten die Beach-Volleyballerinnen „wie nasse Otter“. | |
| Im Schwimmstadion zeigte er sich mit Medienmogul Rupert Murdoch, mit dem | |
| ansonsten kein britischer Politiker mehr etwas zu tun haben möchte. | |
| Minutenlang und fähnchenschwingend hing er beim Public Viewing im Victoria | |
| Park an einer Seilbahn hoch über den Besuchern fest. Anderntags forderte er | |
| zwei Stunden Sport täglich für alle Schüler, nachdem Cameron zwei Stunden | |
| wöchentlich als bloßes Pflichterfüllungsprogramm abgelehnt hatte. | |
| Johnson, 2008 als Bürgermeister gewählt und dieses Jahr wiedergewählt, | |
| liegt oft quer zur Linie der eigenen Partei. Er gibt sich als Champion der | |
| ungeliebten City, was Cameron zu vermeiden versucht; andererseits fördert | |
| er das Radfahren und gibt gern den Umweltschützer auf dem Drahtesel. Seine | |
| Bemerkungen sind nicht selten anzüglich, aber er kommt damit immer | |
| irgendwie durch. | |
| ## Image des Kumpeltyps | |
| Ja, es gehört geradezu zu seinem Image des Kumpeltyps, mit dem selbst seine | |
| politischen Gegner ein Bier im Pub trinken können. Im Gegensatz zu anderen | |
| Politiker schafft er es, dass man nicht über, sondern mit ihm lacht. Sein | |
| unkaputtbarer Optimismus hat genau zur Olympia-Euphorie gepasst und lässt | |
| jetzt Parteigänger laut werden, die ihn gerne als Nachfolger des derzeit | |
| eher glücklosen Cameron sehen würden. | |
| Den Gerüchten über seine politischen Ambitionen ließ Johnson einige Tage | |
| freien Lauf, bevor er in seiner ihm typischen selbstironischen Art alles | |
| abstritt: „Wer wählt schon einen Trottel am Drahtseil.“ Nein, er werde die | |
| volle Amtszeit im Rathaus bleiben, also bis 2016. Damit hat Johnson sich | |
| natürlich alle Optionen für die Zukunft offen gehalten. | |
| Dass Boris Johnson Olympia 2012 auch zu seinem Sommermärchen machen konnte, | |
| liegt wohl daran, dass das Spektakel so funktioniert wie seine politische | |
| Performance: ein großer Spaß, der jedem etwas bietet, ob patriotische | |
| Selbstvergewisserung oder Völkerverständigung. Als Wohlfühl-Event, dem man | |
| sich für den Moment schwer entziehen kann, dessen Nachhaltigkeit aber | |
| zweifelhaft bleibt. | |
| 13 Aug 2012 | |
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| ## AUTOREN | |
| Oliver Pohlisch | |
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