| # taz.de -- Porträt des „Siebentürmeviertel“-Autors: Schreiben ist Krieg | |
| > Im neuen Roman von Feridun Zaimoglu emigriert ein junger Deutscher nach | |
| > Istanbul. Ein Spaziergang durch das Siebentürmeviertel. | |
| Bild: Schauplatz: Im Roman „Siebentürmeviertel“ kommt der nichjüdische de… | |
| „Schnauze, Feridun!“, sagt Feridun Zaimoglu und geht ein paar Schritte weg. | |
| Er steht in der frisch asphaltierten Gasse, in der sein Vater einst | |
| aufwuchs, ganz in Schwarz gekleidet unter der prallen Mittagssonne. Je mehr | |
| er von sich selbst wegkomme, sagt der Schriftsteller, desto besser sei es | |
| für ihn. | |
| Er schnipst eine Mentholzigarette weg, steckt sich die nächste an. Das sei | |
| doch das Geile am Schreiben. Dass da plötzlich nicht nur ein Leben sei, | |
| sondern noch ein anderes. „Okay, jetzt spaziere ich hier als Feridun herum, | |
| mit meiner Hippietasche – alles schön und gut. Aber das ist doch unendlich | |
| langweilig. Da muss doch mehr sein!“ | |
| Wir sind im südwestlichen Teil des Istanbuler Bezirks Fatih, in dem | |
| Viertel, das sich Yedikule – zu Deutsch: sieben Türme – nennt. Zaimoglus | |
| neuer Roman spielt hier, er umfasst 800 Seiten und ist der inzwischen | |
| zehnte in zwanzig Jahren. | |
| Alte Holzbaracken reihen sich neben umzäunte Neubauten. Gerahmt wird das | |
| gesamte Viertel von Überresten alter Burgmauern, die aus Zeiten des | |
| Byzantinischen Reichs stammen. Es herrscht eine angenehme Stille, bis ein | |
| paar schwere Holzlatten aus einem Fenster fliegen. In der Hitze treibt sich | |
| keiner draußen herum, bis auf zwei Frauen mit Einkaufstüten. Ihre | |
| Kopftücher hängen lose um das offene Haar. | |
| Von sich selbst wegkommen – damit meint Zaimoglu, sich in eine andere | |
| Person hineinzuleben. Als der inzwischen 51-Jährige mit dem exzentrischen | |
| Silberschmuck an „Leyla“ schrieb, wurde er zur türkischen Gastarbeiterin. | |
| Auch bei „Isabel“ brach er mit seinem Geschlecht, nahm 16 Kilo ab, weil | |
| sich seine Protagonistin an der Grenze zur Magersucht befand. | |
| Für „Siebentürmeviertel“ wurde Zaimoglu nun zum Halbwaisen Wolf, einem | |
| achtjährigen nichtjüdischen Deutschen, der 1939 gemeinsam mit dem | |
| NS-kritischen Vater nach Istanbul emigriert. Wolf wird mit einer völlig | |
| neuen Welt konfrontiert und dann auch noch vom stoischen Vater verlassen, | |
| der angeblich aus beruflichen Gründen nach Ankara ziehen muss. | |
| So kommt der Junge bei einer türkischen Familie im Siebentürmeviertel | |
| unter. Man nennt ihn Hitlersohn oder Arier, doch er selbst begreift sich | |
| zunehmend als Türken, als Siebentürmler, der sich unbeschwert inmitten | |
| eines fabelhaften Figurenensembles bewegt. „Dieses Viertel ist mein Land“, | |
| heißt es im Prolog, und über 15 Jahre begleiten die LeserInnen Wolf und | |
| sein Land durch diverse Umbrüche. | |
| ## Mokka im Männercafé | |
| Es ist interessant, wie Zaimoglu, dessen Werk sich seit dem ersten Buch | |
| „Kanak Sprak“ von 1995 immer wieder um migrantische Biografien dreht, die | |
| Richtung diesmal umkehrt. Es geht von Deutschland in die noch junge | |
| türkische Republik, es geht um die Integration eines blonden Jungen in eine | |
| archaische, rechtschaffene Welt. Und zwar explizit in ein Viertel, das dem | |
| Autor nicht nur aus den Kindheitserinnerungen seines Vaters bekannt ist. | |
| Auch als die Eltern gerade frisch vermählt und Zaimoglu noch ein Baby war, | |
| lebten die Mutter, zwei Onkel, Großeltern und der kleine Feridun im Keller | |
| eines Hauses in der Haci-Piri-Straße, an dessen Stelle nun ein kleiner, | |
| himmelblau gestrichener Betonklotz steht. Der Vater arbeitete bereits in | |
| Ludwigshafen beim Chemiekonzern BASF und schickte Geld nach Hause. | |
| Als die Mutter 1965 mit dem Sohn schließlich folgen durfte, um als | |
| Akkordarbeiterin bei Telefunken anzufangen, war sie heilfroh. „Denn für sie | |
| war es das Ende der Armut“, sagt Zaimoglu, der damals gerade erst knapp ein | |
| Jahr alt war. „Diese Straße ist für meine Eltern immer auch die Gasse des | |
| Elends gewesen.“ | |
| Im Schatten des Bahnhofs von Yedikule, der seit zwei Jahren außer Betrieb | |
| ist, stehen fünf Plastikhocker. Sie gehören zu dem Männercafé auf der | |
| gegenüberliegenden Straßenseite. Der Wirt serviert türkischen Mokka, medium | |
| gezuckert. Ein paar Gäste schlendern neugierig herüber, um die Fremden zu | |
| begrüßen. | |
| Der Mann mit dem ergrauten Schnurrbart sagt, man nenne ihn Kurdistan. Sein | |
| Freund mit dem kugelrunden Bauch, dessen Gattin freundlich vom Balkon | |
| winkt, stellt sich als Armenier vor. Man schimpft gemeinsam über die | |
| Regierung, bestellt eine Runde schwarzen Tee. Zaimoglu erzählt von seinem | |
| Roman, dann erkennt ihn ein Dritter und sagt: „Dein Türkisch ist ja viel | |
| besser geworden!“ | |
| Vor dreieinhalb Jahren war Zaimoglu zum ersten Mal hier, um mit der | |
| Recherche zu beginnen. Es folgten noch einige Reisen zwischen Kiel – wo | |
| Zaimoglu seit dreißig Jahren lebt – und Istanbul. Jedes Mal über den | |
| Landweg, denn er leidet unter Flugangst. | |
| Im Stadtarchiv fand der Autor heraus, was man zu der Zeit, die er im Roman | |
| schildert, trug, welche gesellschaftlichen Anlässe es gab. Im Viertel | |
| interviewte er Bewohner, glich das Gesagte mit den Erzählungen seines | |
| Vaters ab, sah Gardinen dabei zu, wie sie sich im Wind bauschten. „Das sind | |
| Informationen, die kann mir Google niemals liefern“, sagt Zaimoglu, der | |
| weder Computer noch Smartphone besitzt. Er schreibt auf Schreibmaschine, er | |
| versendet per Fax. | |
| ## Scharfzüngige Feministin | |
| Als der Muezzin am Nachmittag zum Gebet ruft, erzählt der Schriftsteller, | |
| er sei als Jugendlicher eine Zeit lang sehr gläubig gewesen. Er trank | |
| nicht, betete und fastete an Ramadan – irgendwann brach er damit. Auch im | |
| Roman spielt Religion eine Rolle. | |
| Christen, Juden und Muslime koexistieren relativ friedlich im Viertel, bis | |
| die sogenannten Frömmler zunehmend an Einfluss gewinnen. Noch heute stehen | |
| in Yedikule mehr Kirchen als Moscheen. Das ist bemerkenswert, geht die | |
| Rhetorik der AKP-Regierung doch grundsätzlich von einer homogenen, | |
| ausnahmslos sunnitischen Bevölkerung aus. | |
| Zaimoglu winkt ab: „Man nutzt hier die Religion, um den Menschen das Denken | |
| abzugewöhnen und gleichzeitig eine neoliberale Politik zu machen. Das hat | |
| mit Glauben nichts zu tun.“ Zugleich aber weiß Zaimoglu, dass man auch ihn | |
| als Reaktionären lesen kann – auch wenn er selbst den Begriff | |
| „Melancholiker“ bevorzugt. | |
| „Ich mag den schrillen Lärm und die ideologische Verfasstheit der Aufklärer | |
| nicht. Ständig heißt es, es sei gut, das Alte zu überwinden. Aber | |
| hinterfragt wird das kaum“, sagt er und zuckt mit den Schultern. | |
| „Die großbürgerlichen Religionskritiker etwa, sie bauen eine Hierarchie, an | |
| deren Spitze sie sich selbst sehen. Sie verschleiern aber die Tatsache, | |
| dass denen da unten meistens nichts anderes bleibt, als an Wunder zu | |
| glauben.“ | |
| Sätze wie dieser fließen so elegant und beiläufig aus Zaimoglus Mund, als | |
| seien sie vorgefasst und vom Papier aufgesagt. Überhaupt legt der | |
| Schriftsteller großen Wert auf seine Umgangsformen. Alle Anwesenden werden | |
| von ihm ständig mit Höflichkeiten überhäuft, er entschuldigt sich für jedes | |
| potenzielle Missverständnis im Voraus. | |
| Frauen lässt er etwa grundsätzlich nicht auf der Straßenseite ins Taxi | |
| einsteigen. „Ich gehöre zur alten Schule, ich kann nicht anders. Halten Sie | |
| mich bitte nicht für einen Macho!“ Letzteres ist ein Image, das man | |
| Zaimoglu in der Presse immer wieder mal aufdrückte. | |
| Dabei zeigen nicht zuletzt die untypischen Figuren in „Siebentürmeviertel“, | |
| dass ihm nichts ferner liegt, als Frauen auf hilfsbedürftige Charaktere zu | |
| reduzieren. So beschert etwa die Figur Derya, Pflegeschwester von Wolf, als | |
| scharfzüngige Feministin stets einen kritischen Blick auf das soziale | |
| Gefüge – und zwar in einer Zeit, in der Frauen in der Öffentlichkeit | |
| grundsätzlich schwiegen. | |
| ## Männer und Dachratten | |
| Auch Sexualität erhält in der Erzählung einen Raum, der jenseits von | |
| gesellschaftlichen Tabus ein geheimes Eigenleben entwickelt. „Schauen Sie, | |
| da oben gibt es keine Lücken zwischen den Dächern“, sagt Zaimoglu und | |
| deutet auf eine Häuserreihe. „Das war der Weg, über den entzündete Männer | |
| zu ihren Geliebten fanden. Den Kindern erklärte man den Lärm mit | |
| Dachratten.“ | |
| Zaimoglu nimmt seine Hippietasche und verabschiedet sich, am nächsten Tag | |
| wird er den Bus zurück nach Kiel nehmen. | |
| Ob er nicht Urlaub mache? Nein, niemals. Zum Entspannen sperre er sich | |
| höchstens mal ein paar Tage ein und male. Harmonie sage ihm nichts. | |
| Und zum Schreiben bedarf es nicht Harmonie? | |
| „Schreiben ist Krieg“, sagt er entschieden. Monatelang kämpfe er und | |
| zerhacke sich, habe Albträume, während er an einem Roman arbeite. „Und nach | |
| der letzten Zeile kann ich mich keine Stunde freuen, bis sich wieder das | |
| Gefühl der Lebensuntauglichkeit einstellt. Das ist ja voll bescheuert!“ | |
| 16 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Fatma Aydemir | |
| ## TAGS | |
| Emigranten | |
| Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
| Literatur | |
| Buch | |
| Bücher | |
| Reiseland Türkei | |
| Ingeborg-Bachmann-Preis | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| São Paulo | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Roman über Diktatur in Rumänien: Staunen und fremdeln | |
| Beim Bachmannpreis in Klagenfurt war Dana Grigorcea die große Entdeckung. | |
| Jetzt erscheint „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“. | |
| Neue Romane über Erinnerungskultur: Sie denkt, sie sei weiß | |
| Elliot Perlman hat einen Roman geschrieben, der die Erfahrung der | |
| Konzentrationslager mit der Geschichte des Rassismus in den USA | |
| kurzschließt. | |
| Roman über Armut in Brasilien: Noch mehr arme Schweine | |
| Der in Brasilien hoch gelobte Roman „Es waren viele“ von Luiz Ruffato | |
| beschreibt die Welt der Armen in São Paulo. Marginal sind dort die Reichen. |