| # taz.de -- Neue Romane über Erinnerungskultur: Sie denkt, sie sei weiß | |
| > Elliot Perlman hat einen Roman geschrieben, der die Erfahrung der | |
| > Konzentrationslager mit der Geschichte des Rassismus in den USA | |
| > kurzschließt. | |
| Bild: Eine Protagonistin Perlmans: Elizabeth Eckford will am 4. September 1957 … | |
| „Die Erinnerung ist ein sturer Hund. Sie kommt, wenn sie hungrig ist, nicht | |
| wenn du es bist. Die Erinnerung lässt sich nicht rufen oder wegschicken, | |
| aber ohne dich kann sie nicht überleben“, sinniert Lamont Williams. Der | |
| Afroamerikaner ist einer der Protagonisten von „Tonspuren“. | |
| Dass Lamont Williams Überlegungen am Anfang dieses Romans stehen und dass | |
| er, wie so viele junge Männer seiner Hautfarbe in einem US-amerikanischen | |
| Gefängnis sitzt, hat seinen Sinn: Elliot Perlman hat einen Roman über | |
| Rassismus und Erinnerung geschrieben, in dem historische Begebenheiten auf | |
| halbfiktionale und erfundene Charaktere treffen. | |
| Perlman hat das Buch der Erinnerung acht Frauen gewidmet. Vier von ihnen | |
| wurden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau öffentlich hingerichtet. Sie | |
| hatten die Männer des Sonderkommandos, die in den Gaskammern und | |
| Krematorien arbeiten mussten, mit Material zum Bau von Granaten versorgt. | |
| Die anderen vier, junge Afroamerikanerinnen, starben an den Folgen eines | |
| Bombenattentats des Ku-Klux-Klans im September 1963. All diese Frauen seien | |
| „verschiedenen Erscheinungsformen desselben Übels“ zum Opfer gefallen, | |
| schreibt Perlman. | |
| Auf den gut 700 Seiten seines dritten Romans entwickelt der australische | |
| Autor, der zuvor als Anwalt gearbeitet hat, eine komplizierte Geschichte, | |
| deren jüngste Zeitschicht am Ende der Nullerjahre angesiedelt ist und deren | |
| gesamtes Personal auf unwahrscheinlichste Weise miteinander zusammenhängt. | |
| Perlman lässt einen Überlebenden des Sonderkommandos von Auschwitz namens | |
| Mandelbrot, der in einem New Yorker Krankenhaus auf den Tod wartet, dem | |
| nach seiner Haftentlassung hier arbeitenden Lamont Williams seine | |
| Geschichte erzählen. Perlman versetzt seine Leser in die Gaskammern von | |
| Auschwitz und berichtet von den Widerstandsplänen des Sonderkommandos. | |
| ## Singuläres Ereignis | |
| „Beim Anblick des Leichenbergs, der auf ihn wartete, wusste Mandelbrot, | |
| dies war das Ende aller Tage, wie er sie gekannt hatte. Nicht nur für ihn, | |
| sondern auch für die Welt.“ Perlman sieht das Geschehen in den | |
| Vernichtungslagern als singulären Moment an, hinter den die Menschheit | |
| nicht zurück kann. Trotzdem lässt er sich in Zusammenhang bringen mit | |
| anderen Ereignissen. Rassismus beginnt mit Gedanken und Worten. Er setzt | |
| sich fort in administrativen Maßnahmen des Ausschlusses und kann in Pogrom | |
| und Vernichtungslager, im Lynchmob und im Bombenanschlag enden. | |
| So erzählt Perlman auch, wie die junge Afroamerikanerin Elizabeth Eckford | |
| versucht, am 4. September 1957 in Little Rock, Arkansas, eine weiße Schule | |
| zu besuchen. Der oberste Gerichtshof der USA hatte drei Jahre zuvor die | |
| Segregation an den Schulen für verfassungswidrig erklärt. Die vom | |
| Gouverneur von Arkansas herbeigeholte Nationalgarde lässt das Mädchen nicht | |
| ein, während es von einem weißen Mob umzingelt wird: „Lyncht sie! Die | |
| Niggerschlampe kommt uns nicht auf unsere Schule.“ | |
| Perlmans Erzählung ist auf die Erfahrung Elizabeth Eckfords gerichtet. Der | |
| Leser soll nachempfinden, was es heißt, dem Hass des Mobs ausgesetzt zu | |
| sein. Was Rassismus bewirkt, beschreibt er treffend, wenn er Lamont | |
| Williams’ Innenwelt erkundet: „Es war, als erwarte ihn jederzeit ein | |
| furchtbares Unheil, das er nicht ergründen und darum auch nicht abwenden | |
| oder vermeiden konnte.“ | |
| Dass es trotz der in vieler Hinsicht problematischen Beziehung zwischen | |
| jüdischen und schwarzen Amerikanern so etwas wie eine gemeinsame | |
| jüdisch-afroamerikanische Erfahrung und Geschichte gibt, zeigt Perlman an | |
| einer Anekdote, in der sich weiße Gewerkschafter mit schwarzen Arbeitern in | |
| einer Bar in Chicago treffen. Es sind die Vierzigerjahre. Die junge | |
| Bedienung will den Schwarzen wegen ihrer weißen Stammgäste nichts | |
| servieren. Bis ihr Vater sie zurechtweist und den Gästen entschuldigend | |
| erklärt, seine Tochter sei in den USA geboren: „Deswegen glaubt sie, sie | |
| ist weiß.“ Der Vater weiß: Ein jüdisches Mädchen kann sich als Weiße | |
| missverstehen, wird aber früher oder später eines Besseren belehrt werden. | |
| ## Historische Wirkmächtigkeit | |
| Perlman hat aber den Ehrgeiz, dieser gemeinsamen Erfahrung auch eine | |
| historische Wirkmächtigkeit zuzuschreiben. Deswegen lässt er einen anderen | |
| Protagonisten, den jungen Historiker Adam Zigelnik, danach forschen, was | |
| der Umstand, dass schwarze G.I.s, die seit 1943 in segregierten Einheiten | |
| in Europa kämpften und bei der Befreiung von Konzentrationslagern dabei | |
| waren, für die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung in den USA bedeutet | |
| haben könnte. Dort hatten viele jüdische Anwälte an der Seite von | |
| afroamerikanischen Kollegen gearbeitet. Bald erschöpft sich diese spannende | |
| Frage aber in dem Bemühen, nachzuweisen, dass schwarze G.I.s auch Dachau | |
| befreiten. | |
| Auf seiner Mission findet der Historiker Adam Zigelnik etwas, das er nicht | |
| gesucht hat: Er hebt den Schatz des Archivs von David Border. Der | |
| Psychologe reiste 1946 nach Europa, um in verschiedenen Camps für Displaced | |
| Persons traumatisierte Überlebende des Holocaust zu interviewen. Wie viele | |
| der Protagonisten des Romans trägt auch die Figur des David Border Züge | |
| einer realen Person. Der in Lettland geborene und vor dem Krieg in die USA | |
| ausgewanderte jüdische Psychologe David P. Boder war wirklich mit einem | |
| damals neu entwickelten Drahttonaufnahmegerät in Europa unterwegs. Er | |
| arbeitete den Rest seines Lebens daran, die Gespräche zu transkribieren. | |
| 1949 erschienen acht der Interviews unter dem Titel „I Did Not Interview | |
| the Dead“ in englischer Übersetzung. Die meisten seiner Gespräche mit | |
| Überlebenden hatte Boder auf Deutsch, Jiddisch und Russisch geführt. Vor | |
| anderthalb Jahren erst wurde Boders Buch vom Heidelberger | |
| Universitätsverlag Winter erstmals auf Deutsch veröffentlicht, wobei als | |
| Grundlage für die fünf der acht im Original deutschen Interviews die | |
| Originaltonaufnahmen benutzt wurden. Inzwischen kann man die Aufnahmen auch | |
| im Internet hören und dabei das Transkript und die englische Übersetzung | |
| lesen. | |
| ## David Borders Tonaufnahmen | |
| Perlmans Roman gebührt das Verdienst, auf das einzigartige Projekt Boders | |
| hinzuweisen, Überlebende der Schoah in ihrer eigenen Sprache über das von | |
| ihnen Erlebte erzählen zu lassen. Perlmans Projekt ist getragen von der | |
| jüdischen Idee, dass jeder und jede Einzelne eine Welt in sich trägt, die | |
| mit dem Tod unwiderruflich verschwindet, woraus sich das Gebot der | |
| Erinnerung ergibt. Wenn man „Tonspuren“ liest, fragt man sich aber, ob ein | |
| Roman im Stil des 19. Jahrhunderts so wie Perlman ihn geschrieben hat, die | |
| angemessene ästhetische Form des Umgangs mit Erinnerungen an kollektiv | |
| organisierte Gewalt ist. | |
| Als Adam Zigelnik einem Karriereknick entgegenblickt, trennt er sich von | |
| seiner Freundin. Das führt dann zu ermüdenden Dialogen im Stil | |
| drittklassiger TV-Produktionen und wirft die Frage auf, was diese | |
| Geschichte mit den historischen Nacherzählungen des Romans zu tun hat. In | |
| der New York Times wurde er auch deswegen verrissen: Das dicke Buch | |
| enthalte die Substanz einer Novelle. Abgesehen von ästhetischen Mängeln | |
| kritisierte der Rezensent David Gates die idealisierte Verbindung der Opfer | |
| der Geschichte. Ein weiteres Problem sah er in der Reinheit der Hauptfigur, | |
| die an keiner Stelle irgendwelche Skrupel entwickle, auf den | |
| Horrorgeschichten aus Auschwitz eine neue Karriere aufzubauen. | |
| ## Bild des Wohlgefallens | |
| Tatsächlich löst sich der Roman in einem versöhnlichen Bild des | |
| Wohlgefallens auf. An einer New Yorker Straßenecke unterhalten sich der | |
| Sohn eines jüdischen Anwalts der schwarzen Bürgerrechtsbewegung mit einer | |
| afroamerikanischen Onkologin und einem unschuldig verurteilten | |
| afroamerikanischen Exsträfling, der die Chanukkia eines vor Kurzem | |
| verstorbenen Überlebenden der Schoah unter dem Arm trägt. Und dann kommt | |
| noch ein kleines Mädchen dazu. Es sei ein erhebendes Bild, kommentiert | |
| Perlman seine Szene. Wenn die Erinnerung ihren Platz in der Gesellschaft | |
| finde und Zeugnis abgelegt werde, sei noch nicht alles verloren. | |
| Der Auschwitz-Überlebende Otto Dov Kulka hat darüber berichtet, wie der | |
| Kinderchor des Familienlagers in Auschwitz unter der Leitung eines | |
| jüdischen Häftlings Schillers „Ode an die Freude“ sang. Kulka fragt sich, | |
| ob dies ein Protestakt war, ein Festhalten an den humanistischen Werten, | |
| oder nicht eher ein Akt des extremen Sarkasmus „an der äußersten Grenze des | |
| Amüsements, das sich ein Mann erlaubte, der eine Gruppe argloser Kinder in | |
| seiner Obhut hatte und ihnen arglose Werte einflößte – erhabene, wunderbare | |
| Werte –, obwohl er selbst wusste, dass diese Werte keinen Sinn und keinen | |
| Zweck haben und bedeutungslos sind.“ | |
| Erinnerungen sind prekär. Wenn es sich um verstörende handelt, werden sie | |
| gern verdrängt oder vergessen, das gilt für Einzelne wie für | |
| Gesellschaften. Manche Erinnerungen und Zeugnisse stören den ungestörten | |
| Fortgang der Dinge aber auf ganz fundamentale Weise, weil sie jede | |
| Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens und jede Ethik dementieren. | |
| Elliot Perlman hat sich dafür entschieden, optimistisch zu sein. | |
| ## ■ Elliot Perlman, „Tonspuren“, DVA, München 2012. 704 S., 24,99 Euro … | |
| David P. Boder, „Die Toten habe ich nicht befragt“, Universitätsverlag | |
| Winter, Heidelberg 2011. 368 S., 25 Euro | |
| 14 Jun 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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