# taz.de -- Schriftsteller Victor Serge: Ein ungeschminkter Einblick | |
> Der Revolutionär und Schriftsteller Victor Serge gab sachkundige | |
> Einblicke in die Sowjetunion. Seine Bücher erfreuen sich posthum großer | |
> Beliebtheit. | |
Bild: Die Demonstranten auf dem Bild wünschen sich den Kommunismus zurück. Wa… | |
„Du sollst denken, du sollst kämpfen, du sollst hungern, du sollst | |
widerstehen“, diese rigorosen Handlungsanweisungen gab sich der junge | |
Revolutionär Victor Serge selbst – und er befolgte sie allzu gut. Denn | |
anders als andere Bolschewiki war der vor 65 Jahren gestorbene Serge kein | |
autoritärer Charakter. Seine Skepsis aber hätte ihn fast ins Grab gebracht. | |
Serge wurde 1890 als Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch in Brüssel geboren, | |
seine Eltern waren dorthin aus dem zaristischen Russland geflohen, in dem | |
sie politisch verfolgt waren. Serge politisierte sich schnell und schloss | |
sich schon als Jugendlicher diversen politischen Gruppen an, bis er | |
schließlich in Paris zur so genannten La Bande à Bonnot fand, einer | |
anarchistischen Gruppe, die sich für ihre Anschläge und Überfälle eines | |
Autos bedienten, was in damaliger Zeit sensationell war. | |
Serge wurde 1912 wegen seiner Mitgliedschaft in dieser „Bande“ zu fünf | |
Jahren Haft verurteilt, er kam 1917 frei und siedelte zunächst nach | |
Barcelona über, um sich auch dort gleich politisch zu betätigen. | |
Als er vom Sturz des russischen Zaren hörte, hielt ihn jedoch nichts mehr | |
in Spanien, und nach einigen Wirren in Frankreich, wo er festgehalten | |
wurde, kam er schließlich 1919 in der Heimat seiner Eltern an. Doch obschon | |
er sich zunächst ohne Vorbehalt für die russische Revolution begeisterte, | |
kamen ihm bald Zweifel an der Politik der Bolschewiki. | |
Der im Exil geborene Russe Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch veröffentlichte | |
seit seinem 18. Lebensjahr Artikel in Zeitungen, und seit 1917 nannte er | |
sich als Autor Victor Serge. In der Sowjetunion engagierte er sich für die | |
Sache der Bolschewiki, blieb aber innerlich auf Abstand. | |
Er befürwortete, anders als das Zentralkomitee der kommunistischen Partei, | |
den Aufstand der Matrosen von Kronstadt, und missbilligte seine brutale | |
Niederschlagung im Jahr 1921. Schon damals war er ein „Linksabweichler“, | |
war also radikaler als die pragmatisch agierende bolschewistische Führung. | |
## Berufsrevolutionär | |
Im Auftrag der Komintern war Serge auch in Deutschland aktiv, er war | |
beteiligt am übereilten und gescheiterten Hamburger Aufstand im Oktober | |
1923, dessen Verlauf Serge vor Augen führte, dass die Zeit für eine | |
Weltrevolution noch nicht reif war. Desillusioniert kehrte er in die | |
Sowjetunion zurück und schloss sich den Zirkeln um Leo Trotzki an, die | |
unter Stalins Herrschaft zunehmend ausgegrenzt wurden. | |
Da er politisch isoliert war, begann Serge, Romane zu verfassen, die, da | |
sie in der Sowjetunion nicht verlegt werden konnten, in Frankreich | |
erschienen. Er wurde 1927 aus der Partei ausgeschlossen, von der | |
Geheimpolizei, gegen deren Gründung er bereits agitiert hatte, schwer | |
schikaniert, 1933 schließlich verhaftet und zu drei Jahren Verbannung im | |
Ural verurteilt. | |
Er wäre sicher den berüchtigten Schauprozessen zum Opfer gefallen, hätten | |
nicht Schriftsteller wie Romain Rolland und Magdeleine Paz von Frankreich | |
aus gegen Serges Gängelung protestiert. Sicher kam ihm auch zugute, dass | |
Stalin Serge vor allem als Schriftsteller wahrnahm, mutmaßt der Historiker | |
Walter Laqueur. | |
Dass er „nur“ ein Autor sei, warf ihm wiederum der gleichfalls aus Russland | |
ausgereiste Trotzki vor, er nannte Serge einen „koketten Moralisten“. Serge | |
war nun also gezwungen, auf Abstand zu Trotzki zu gehen, und vielleicht | |
entfernte er sich sogar von allen anderen revolutionären Strömungen, denn | |
die zehn Jahre, die ihm bis zu seinem Tod blieben, nutze er intensiv fürs | |
Schreiben – unter anderem verfasste er auch eine Trotzkibiografie, | |
gemeinsam mit dessen Witwe, in der Serge seinem 1941 ermordeten politischen | |
Kontrahenten sehr huldigte. | |
Serges Romane und Sachbücher, die zu seinen Lebzeiten keine großen Erfolge | |
waren und zum großen Teil erst posthum erschienen, erfreuen sich in den | |
letzten Jahren einer wachsenden Beliebtheit – da sie einen sachkundigen und | |
ungeschminkten Einblick in die frühe Sowjetunion geben. | |
## Von Humanismus zu Terror | |
Besonders hervorzuheben ist hier der Roman „Die große Ernüchterung. Der | |
Fall Tulajew“, in dem geschildert wird, wie das Attentat eines | |
Verzweifelten von der Partei genutzt wird, um unliebsame Personen, die | |
nichts mit dem Attentat zu tun hatten, abzuservieren. | |
Serge, der seinen Dostojewski gelesen hat, schildert in diesem Roman | |
mitreißend den Alltag der Genossinnen und Genossen, die, wenn sie aus | |
lauter Armut ein bisschen Butter auf dem Schwarzmarkt verkauften, gleich | |
als „Spekulanten“ gebrandmarkt wurden. Der Umschlag von Humanismus in | |
Terror ist literarisch selten besser verarbeitet worden. | |
## Victor Serge: „Die große Ernüchterung: Der Fall Tulajew" Edition | |
Büchergilde, Frankfurt am Main 2012, 448 Seiten, 19,95 Euro | |
14 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Jörg Sundermeier | |
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