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# taz.de -- Luiz Ruffato über Bolsonaro: „Das gab es noch nie“
> Seine Eltern konnten nicht lesen, er wurde zum Star-Autor Brasiliens.
> Luiz Ruffato erzählt von politischem Analphabetismus und dem Regenwald.
Bild: Brasiliens Star-Schriftsteller Luiz Ruffato glaubt nicht, dass Bolsonaro …
taz am wochenende: Luis Ruffato, [1][Sie sind Schriftsteller]. Sie äußern
sich aber auch sehr dezidiert über Politik.
Luiz Ruffato: Ich würde lieber meine Bücher schreiben und nur darüber
reden. Aber die Lage in Brasilien hat sich über die Jahre sehr
verschlechtert und zugleich haben nur wenige Leute klar Stellung dazu
bezogen. 2013 hatte ich mit der [2][Eröffnungsrede der Frankfurter
Buchmesse] die Chance dazu. Dafür wurde ich in meiner Heimat extrem
kritisiert. Es hieß: Es geht uns doch endlich mal richtig gut, und du
sagst, alles ist schlecht. Aber wenn man durch die Straßen spaziert und die
Augen aufmacht, ist klar, dass eben nicht alles gut ist.
Warum positionieren sich so wenige?
Aus Furcht. Der Kulturbetrieb ist sehr prekär. Der größte Teil der
Finanzierung kommt vom Staat. Und da viele von ihm abhängen, kritisieren
sie diesen nicht öffentlich. Denn das kann Konsequenzen haben. Wie bei mir
zum Beispiel. Seit 2013 hat sich keine brasilianische Botschaft mehr für
eine meiner Lesungen zur Verfügung gestellt, auch hier in Deutschland
nicht. [3][Künstler*innen sagen von daher gerne: Was ich über Brasilien zu
sagen habe, steht in meinen Büchern oder hört ihr in meiner Musik oder seht
ihr in meinen Filmen.] Aber ich denke, dass ein Intellektueller außer in
seiner Kunst auch eine wichtige Rolle durch Kritik spielen sollte, gerade
in einem Land wie Brasilien.
Derzeit ist Brasilien wegen der [4][verheerenden Waldbrände in Amazonien]
weltweit in den Schlagzeilen. Was bedeutet Amazonien, ein Territorium, das
fast zwei Drittel der Fläche ausmacht, für Brasilien?
Amazonien ist noch immer ein von Menschen weitgehend unberührtes riesiges
Gebiet, das um jeden Preis erhalten werden muss. Sonst überlebt die
Menschheit auf der Erde nicht. Ich denke aber nicht, dass es unter
internationale Verwaltung gestellt werden sollte, wie manche fordern. Wir
Brasilianer müssen uns der Wichtigkeit dieses Ökosystems bewusst werden.
Und dagegen kämpfen, dass inkompetente Machthaber, wie Jair Bolsonaro, es
für die Interessen des Agrargeschäfts und des internationalen Kapitals
opfern.
Denn auch die europäischen, nordamerikanischen und asiatischen Konsumenten
sind verantwortlich für die Zerstörung Amazoniens. Sie kaufen günstig Holz,
Zucker, Soja und Fleisch, für deren Anbau die Unternehmen völlig
unkontrolliert in den Regenwald einmarschieren. Das große Problem in Bezug
auf die Umwelt ist heute, dass die wichtigsten Regierungschefs auf der
Welt, Donald Trump, Wladimir Putin, Xi Jinping, nur Verachtung für
ökologische Fragen übrig haben. Sie wollen ihren politischen,
wirtschaftlichen und finanziellen Einfluss erweitern, ohne sich um die
Zukunft des Planeten zu sorgen.
Was derzeit in Brasilien unter Präsident Bolsonaro vor sich geht, haben Sie
auch im Frühjahr in einem Vortrag an der Berliner Volksbühne skizziert: vor
allem Chaos
Niemand, nicht einmal seine Unterstützer, hätten gedacht, [5][dass
Bolsonaro so schlecht regieren würde]. Wann immer jemand aus seinem
Kabinett etwas verkündet, spricht er sich dagegen aus, wenn es ihm
persönlich nicht passt. Finanzminister Paulo Guedes wollte die
Kirchensteuer einführen, Bolsonaro sagte Nein. Dieselkraftstoff sollte
verteuert werden, Bolsonaro sprach sich dagegen aus, obwohl er zugleich
staatlichen Interventionismus per se ablehnt.
Er ist schlecht für die Industrie, den Handel, die Agrarbranche, von den
sozialen Bewegungen gar nicht zu reden. Ich denke aber, die große
Opposition, die Bolsonaro schließlich zu Fall bringen wird, wird nicht aus
Brasilien kommen, sondern von internationalen Kapitalgruppen, die sich
Sorgen um ihre Gewinne machen.
Sollte Bolsonaro gehen, wäre dann das Problem gelöst?
Nein, leider nicht. Dafür ist er zu unwichtig. Bolsonaro flog in die USA
und brachte Visumerleichterungen mit – für US-Bürger! Ohne Gegenleistung!
Danach flog Vizepräsident Hamilton Mourão noch einmal hin und verhandelte
neu. Das gab es noch nie. Den Präsidenten schickt man nach Hause, und mit
dem Vizepräsident verhandelt man! Aber General Mourão ist nicht ohne Grund
als Vizepräsident installiert worden.
Inwiefern?
Die Verfassung sagt, dass, wenn der Präsident vor Ablauf von zwei Jahren
zurücktritt, innerhalb von sechs Monaten Neuwahlen ausgerichtet werden
müssen. Dafür zuständig wäre dann Mourão, ein General der Armee. Und wer
sagt denn, dass der dann, statt Neuwahlen auszurichten, nicht sagt: Leute,
die Situation ist zu kompliziert, die Wahlen fallen leider aus. Es wäre
nicht der erste Militärputsch in der Geschichte des Landes.
Das halten Sie für denkbar?
Ein anderes Szenario wäre: Bolsonaro tritt erst in der zweiten Hälfte
seiner Amtszeit zurück, oder er wird entfernt. Dann würde Mourão direkt
Präsident. Dass Bolsonaro bis zum Ende seiner Amtszeit regiert, halte ich
für weniger wahrscheinlich.
Sie beklagen einen „politischen Analphabetismus“ in ihrem Land. Eine Art
Politikverdrossenheit, gepaart mit schlichter Unfähigkeit, Politik zu
verstehen. Auch weil eine Mehrheit sich noch immer ums bloße Überleben
kümmern muss. Könnte man daraus folgern, dass die Menschen nicht reif für
die Demokratie sind?
Nein, im Gegenteil. Das demokratische System muss allen Menschen die
Grundlagen dafür bereitstellen, dass alle mitmachen können. [6][Lula] hatte
das als Präsident versucht. Er hat die Armut bekämpft und einen
fundamentalen Schritt gemacht. Aber den allgemeinen Zugang zu qualitativer
Bildung, den Zugang zu Informationen, der wichtig ist, um über die Welt
reflektieren zu können, hat er leider nicht geschaffen.
Die Leute erinnern sich alle vier Jahre daran, dass sie wählen sollen. Aber
Politik ist die tägliche Ausübung von Rechten und Pflichten. Der politische
Analphabet ist nicht Subjekt, sondern Objekt der Geschichte. Man kann also
nicht sagen, dass diese Menschen ihre demokratischen Rechte nicht richtig
ausüben, sondern sie werden daran gehindert, ihre Rechte ausüben zu
können.
Bolsonaro hat angekündigt, den Gesellschaftswissenschaften an den
Universitäten weitere Mittel zu entziehen. Sie seien im Vergleich zu den
technischen Disziplinen überflüssig.
Bolsonaro ist ein sehr mediokrer Mensch. Er liest selber nicht. Sonst
wüsste er, dass Philosophie für alle Wissenschaften eine entscheidende
Rolle spielt. Nur durch das Philosophieren sind die Menschen darauf
gekommen, Flugzeuge zu bauen oder Geschäftsideen zu entwickeln. Aber das
sind Diskussionen, denen ich mich verweigere, es ist Zeitverschwendung:
Denn wer Philosophie betreiben will, wird das tun. Und die
Geisteswissenschaften bekommen ohnehin so wenig Mittel, dass es keinen
Unterschied machen wird.
Es ist reine Symbolpolitik, um abzulenken von wirklich wichtigen Inhalten.
Genauso wie der Spruch „Ab heute tragen Mädchen Rosa und Jungs Blau“ von
Ministerin Damares Alves, über den sich alle aufgeregt haben. Alles
Strategie, alles Ablenkungsmanöver.
Die Figuren in Ihren Romanen kommen häufig von der Peripherie. Sie haben
den Anspruch, die Realität der Armen abzubilden. Wer liest denn Ihre
Bücher?
Niemand. (lacht) In Brasilien liest niemand. Wirklich niemand. Weder die
Unterschicht noch die Mittel- noch die Oberschicht. Für die ist nur
wichtig, dass sie das neueste IPhone haben, mit dem sie dann nach Miami
fahren. Literatur ist eine Art künstlerischen Ausdrucks, die selbst elitär
sein muss. Denn um sie zu betreiben, muss man selbst zunächst mal ein
Mindestmaß an Bildung genossen haben. Und auch die Leser müssen ein solches
Mindestmaß genossen haben. Im Übrigen: Die Idee, die Literatur zu
vereinfachen, um sie für alle verständlich zu machen, halte ich für
autoritär.
Dabei benutzen Sie in Ihren Romanen eine einfache Sprache. Die Sprache des
Volkes?
Es ist nicht die Sprache des Volkes, sondern die literarische Neuschaffung
von Volkssprache. Deshalb habe ich auch keine grammatikalischen Fehler oder
Ähnliches eingebaut. Das interessiert mich nicht, das wäre keine Literatur.
Man nimmt die Realität und transformiert sie in literarische Realität. Und
im besten Fall ist sie dann echter als die Wirklichkeit.
Sie haben von der weißen Elite in Brasilien gesprochen, die ihre
Privilegien nicht abgeben will. Wozu gehören Sie?
Es gibt zwei Gruppen von Weißen in Brasilien: Reiche und Arme. Von meiner
Herkunft her gehöre ich zu Letzteren. Meine Eltern waren Analphabeten, mein
Vater verkaufte Popcorn, meine Mutter arbeitete als Wäscherin. Als armer
Weißer habe ich dennoch Zugang zu bestimmten Dingen, die ich als Schwarzer
niemals hätte. Bei der Jobsuche hat der schlechter qualifizierte Weiße
immer noch einen Vorteil gegenüber einem Schwarzen oder Indigenen. Und
Frauen stehen strukturell noch weiter unten in der Bewertungsskala.
11 Sep 2019
## LINKS
[1] /Roman-ueber-Armut-in-Brasilien/!5079657
[2] http://blogs.taz.de/latinorama/2013/09/29/brasilien-auf-der-buchmesse-5-lui…
[3] /Filmemacher-ueber-Dokumentarfilm/!5570411
[4] /Biologin-ueber-Amazonasbraende/!5619405
[5] /Kommentar-Brasilien-unter-Jair-Bolsonaro/!5545419
[6] /Verurteilung-von-Brasiliens-Expraesidenten/!5601698
## AUTOREN
Sunny Riedel
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