| # taz.de -- Neuer Roman von Sayed Kashua: Spiel mit Fakten und Fiktion | |
| > Sayed Kashua, israelischer Schriftsteller arabischer Herkunft, legt mit | |
| > „Lügenleben“ den ersten Roman nach seiner Emigration in die USA vor. | |
| Bild: Hat mit „Lügenleben“ ein elegant und intelligent komponiertes Buch g… | |
| Sayed Kashua ist vor fünf Jahren aus Israel in die USA emigriert. Nach | |
| einigen persönlichen Erfahrungen und Anfeindungen erlosch für ihn langsam, | |
| aber sicher die Hoffnung, „es könnte eines Tages möglich sein, dass Juden | |
| und Araber eine Geschichte hätten, welche die Geschichte des jeweils | |
| anderen nicht leugnet“, wie er damals im [1][Spiegel ] schrieb. | |
| In den Staaten unterrichtet er heute an der University of Illinois. | |
| [2][„Lügenleben“] ist der erste Roman, der aus dieser Außenposition des | |
| freiwilligen Exils heraus entstanden ist (zugleich das letzte Buch, das die | |
| Anfang des Jahres verstorbene Mirjam Pressler ins Deutsche übersetzt hat). | |
| Wie alle Romane Kashuas spiegelt auch dieser in mancherlei Hinsicht die | |
| Lebenssituation seines Autors wider. | |
| Die vielfachen Identitätsfallen, die ein Leben als arabischer Israeli und | |
| dabei erfolgreicher hebräischsprachiger Schriftsteller bereithält, sind | |
| stets ein reicher Nährboden für Kashuas Werk gewesen, das geistreiche Spiel | |
| mit Realität und Fiktion eine Art Markenzeichen seiner Prosa. Aber keiner | |
| seiner bisherigen Romane hat den Schmerz, den es bedeuten kann, ein Leben | |
| zwischen verschiedenen Identitätsmustern zu führen, mit so existenzieller | |
| Dringlichkeit beschrieben wie dieser hier. | |
| Wie alle Erzähler in Kashuas Romanen hat auch der Protagonist von | |
| „Lügenleben“ ein paar Dinge mit seinem Autor gemeinsam, wobei offenbleibt, | |
| wie weit die Gemeinsamkeiten gehen. Auf jeden Fall lebt auch er seit ein | |
| paar Jahren mit Frau und Kindern in den USA. Auch der namenlose | |
| Ich-Erzähler ist ein palästinensischer Autor mit israelischer | |
| Staatsbürgerschaft, und auch er stammt aus dem Ort Tira. Alles andere ist | |
| vermutlich anders, und im Detail ist das auch egal. | |
| Es ist eine fiktionale, alternative Existenz für sich selbst, die Kashua | |
| entwirft, ein Was-wäre-wenn-Spiel, in dem einem jungen palästinensischen | |
| Intellektuellen vom Schicksal weniger glückbringende Karten zugeteilt | |
| wurden als ihm selbst. | |
| ## Verlust der Erinnerungen | |
| Der Ich-Erzähler des Romans befindet sich offenbar in einem anhaltenden | |
| existenziellen Dilemma, dessen Ursachen und Dimension zunächst im Unklaren | |
| bleiben. Er unternimmt eine Reise nach Israel, weil sein alter Vater, mit | |
| dem er seit seiner Hochzeit keinen Kontakt mehr hatte, dort mehr oder | |
| weniger im Sterben liegt. Die Reise ist einem strengen Budget unterworfen, | |
| das der Erzähler von seiner Frau zugeteilt bekommen hat, die an einer | |
| amerikanischen Universität arbeitet. | |
| Das Paar hat drei Kinder zusammen, lebt jedoch nicht unter einem Dach. | |
| Während die Frau mit den Kindern das gemeinsame Haus bewohnt, haust der | |
| Erzähler in einem Studentenapartment. Das wenige Geld, das er selbst | |
| verdient, erschreibt er sich als Ghostwriter. | |
| Einst hatte er in Israel auf eine Karriere als Journalist gehofft, die aber | |
| nicht recht in Schwung und gänzlich zum Erliegen gekommen war, nachdem die | |
| Veröffentlichung seines einzigen literarischen Textes, einer | |
| Kurzgeschichte, zu einem Skandal und daraufhin zur erzwungenen Heirat mit | |
| seiner Frau geführt hatte, die er zuvor gar nicht gekannt hatte. | |
| Was es mit dieser Kurzgeschichte auf sich hat, wird nach und nach | |
| entschleiert – und an ihr exemplarisch gezeigt, wie fatal es sein kann, | |
| Fiktion und Fakten leichtfertig zu vermischen. Denn da die Frau des | |
| Erzählers den seltenen Vornamen Falestin trägt (was hochgradig metaphorisch | |
| ist, da es gleichzeitig Palästina bedeutet) – ebenso wie die Heldin der so | |
| erotisch wie patriotisch aufgeladenen Kurzgeschichte –, ist sie von den | |
| literarisch wenig gebildeten Bewohnern des Dorfes, aus dem sowohl sie als | |
| auch der Erzähler stammen, mit der fiktiven Figur gleichgesetzt worden – | |
| was ihren sozialen Ruin und infolgedessen die Zwangsheirat mit dem Autor | |
| bedeutet hat. Kein guter Beginn für eine Ehe. | |
| Ein weiteres Spannungsfeld wird durch die Autobiografien gebildet, die der | |
| Autor für andere Menschen schreibt. Da die Erinnerungen seiner | |
| AuftraggeberInnen oft große Lücken haben, füllt er diese mit eigenen | |
| Erlebnissen. Doch während die KundInnen die hinzugefügten Erinnerungen | |
| umstandslos als ihre akzeptieren, gehen sie dem Autor gleichzeitig für den | |
| eigenen Gebrauch verloren. Dass dieser Verlust der schönen Erinnerungen | |
| quasi pathologisch ist und sich zurückführen lässt auf eine Ursünde, | |
| nämlich das Stehlen der sehr intimen Erinnerung eines anderen, wird erst | |
| ganz zum Schluss offenbart. | |
| „Lügenleben“ ist ganz wie frühere Kashua-Werke sehr elegant und intellige… | |
| komponiert, und doch ist dieser Roman anders; es fehlen ihm sowohl die | |
| Momente plötzlich aufbegehrenden Zorns als auch die Momente spielerischer | |
| Leichtigkeit, mit denen die anderen Romane gesprenkelt waren. Es ist ein | |
| ungemein ernstes, konzentriertes Buch. Seine Haltung zu den Themen, die es | |
| verhandelt, ist von einer neuen existenziellen Unbedingtheit. Von einer | |
| Hoffnung auf bessere Zeiten ist darin rein gar nichts mehr zu spüren. | |
| 14 Sep 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-128101552.html | |
| [2] https://www.piper.de/buecher/luegenleben-isbn-978-3-8270-1317-0 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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