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# taz.de -- Neue Maßstäbe der Gegenwartsliteratur: Schönheit, Stil und Gesch…
> Der erste Roman der Autorin Karen Köhler wurde mit Neugier erwartet. Nun
> ist er erschienen: „Miroloi“. Unseren Autor hinterlässt er auch ratlos.
Bild: So ergreifend wie liegestuhltauglich: Karen Köhler mit Arbeitsmaterial z…
Man weiß im Grunde überhaupt nicht mehr, was irgendwas ist. Zum Beispiel
dieser erste Roman von Karen Köhler – die vor einigen Jahren mit dem
Erzählband „Wir haben Raketen geangelt“ als Autorin sehr bekannt geworden
ist –, bei Hanser verlegt und fast 500 Seiten dick: Ein Mädchen,
Außenseiterfigur, wächst auf in einer archaisch-mediterranen Welt, wo
potentielle Leserinnen gern Urlaub machen, aber nicht leben wollen würden.
Natürlich ist sie eine Waise, ein Findelkind, die Leute behandeln sie
schlecht, sie dichten ihr den bösen Blick an und bringen ihre Katze Minki
um, das ist fies.
Die Männer sind sowieso nicht so gut und auch faul, es ist eine
patriarchale Welt und, doch, recht ungerecht und später sogar richtig böse,
aber dann gibt es da auch die anderen, die Helferfiguren, die nackte weise
Frau am Quellorakel und eine erste zarte Liebe.
Das Ganze ist in Ich-Form geschrieben, in einem kindlichen Bullerbü-Ton,
dem man sich nicht entziehen kann. Ja, wir leiden und freuen uns mit der
namenlosen jungen Frau, die dann doch einen Namen bekommt – geheim geheim!
– und eine Klitoris, es ist ja ein Buch für Erwachsene, trotz allem. Oh,
und sie lernt dann auch lesen, verbotenerweise, und Frauen, die lesen … das
wissen wir ja.
## Roman zum Wohlfühlen
Dabei muss lesen gar nicht schwer sein: „Miroloi“ ist als Häppchenbuch in
vielen kurzen Abschnitten, „Strophen“ genannt, sowie in leichter Sprache
verfasst und bleibt bei allen Problemen, die bekanntlich dazugehören, ein
Roman zum Wohlfühlen. Vor zwanzig Jahren wurden Erwachsene mitunter noch
scheel angeguckt, wenn sie „Harry Potter“ lasen, jetzt kommen ihre Romane
direkt im Jugendbuchstil daher: Das Gute ist klar geschieden vom Bösen, und
vom Brot backen bis hin zu den pittoresken Inselbräuchen lässt sich alles
bequem nachvollziehen, selbst die tiefsten Gedanken: „Wenn alles, was ich
denke und bin, nicht auch ein Teil des Göttlichen ist, dann bin ich
gottlos, haltlos, aber frei. Aber wo in meinem Handeln wäre dann die
Grenze? Wo der Weg? Woher wüsste ich, was richtig ist und was falsch?
Hallo! Hallo? Quälen irgendwen hier ähnliche Fragen?“
Das ist alles mit viel Hingabe gemacht und dabei komplett ironiefrei. So
hatten wir uns das Postironische eigentlich nicht vorgestellt; und wo wäre
das jetzt zu verorten auf der literarischen Landkarte – irgendwo zwischen
„Wanderhure“ und „Schäfchen im Trockenen“, „Krabat“ und dem Gastro…
Griechenland? Ein Kritiker vom alten Schlag hätte hier vielleicht
verächtlich von „jungfernhafter Unkunst“ gesprochen (wie einst Carl
Einstein legendär über Paula Modersohn-Becker – man kann sich auch irren!),
vom Kitsch als dem „Bösen im Wertsystem der Kunst“ (Hermann Broch) oder von
der strukturalen Lüge des Midcult (Umberto Eco), aber heute mag man sich
nicht mehr so überheben, wozu auch und mit welchem Recht? Karen Köhlers
Buch wird seine Leserinnen finden, und sie werden es lieben, denn erstens
ist es so ergreifend wie liegestuhltauglich, zweitens können sie bei der
Lektüre aber auch das Herz der Kultur schlagen hören, und das eines gut
verdaulichen Feminismus vielleicht sogar dazu.
Lesen lernen und fühlendes Wesen bleiben, Aprikosenmarmelade kochen und es
den Männern mal so richtig zeigen – das macht die Welt nicht schlechter,
womöglich sogar ein bisschen besser, und wer oder was kann das schon von
sich behaupten. Es ist wie mit der
Gute-Laune-obwohl-du’s-schwer-hast-Schokolade, die ja auch im Buchhandel zu
erwerben ist, und ist sogar noch schöner verpackt mit aufwändig und
geschmackvoll gestaltetem Umschlag, wertig, ein ideales Geschenk. Nur dass
das Feuilleton einer überregionalen Zeitung einem die Schokolade nicht zur
Rezension anbietet.
Wenn das aber Literatur ist, und so sieht’s ja wohl aus, dann hat sich der
Literaturbegriff in den letzten Jahren radikal gewandelt und wir brauchen
neue Maßstäbe der Schönheit, des Stils und des Geschmacks. Sie müssten uns
helfen zu klären, womit und in welcher Hinsicht ein Buch wie „Miroloi“
überhaupt zu vergleichen wäre und wie man dann entsprechend werten könnte.
## Es braucht keine Gatekeeper mehr
Vielleicht sind diese Maßstäbe auch längst vorhanden oder werden zumindest
ausgehandelt, aber eben in den Lese-Communities, in den Netzwerken der
Leserinnen selbst und nicht bei den Expertinnen und Experten, die ihre
Begriffe akademisch an dem geschult haben, was, wie Robert Musil einmal
formulierte, „durch ungefähr hundertfünfzig Jahre als die Dichtung, als die
Dichtung der großen und Urmaße gegolten hatte“.
Die eine Literatur – vielleicht ist sie endgültig der Ausdifferenzierung
des Buchmarkts zum Opfer gefallen, und auch das müsste ja nicht
zwangsläufig etwas Schlechtes sein. Dieser Roman hier braucht jedenfalls
weiß Gott keine Gatekeeper mehr – und man sieht ja, was passiert, wenn man
trotzdem einen einschaltet: Wider Willen wird er denn doch überheblich, aus
reiner Hilflosigkeit.
Hallo? Quälen irgendwen hier ähnliche Fragen?
19 Aug 2019
## AUTOREN
Moritz Baßler
## TAGS
Gegenwartsliteratur
Roman
Literaturkritik
Buch
Literatur
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Literatur
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