# taz.de -- Wiederentdeckung des Versepos': Die Widerstandskämpferin | |
> Die Schriftstellerin Anne Weber erzählt die Geschichte einer | |
> beeindruckenden Frau in Versen: „Annette – ein Heldinnenepos“. | |
Bild: Stoff für ein Heldinnenepos: Das Leben der Annette Beaumanoir | |
Keine Angst, es geht mal nicht um Droste-Hülshoff, und ja – es handelt sich | |
um ein echtes Epos, einen Erzähltext in Versen, aber auch hier: keine | |
Angst! Doch der Reihe nach: Als Heldin besungen wird Annette (das letzte e | |
ist stumm) Beaumanoir (*1923), die als junge Frau in der französischen | |
Résistance und dann für die algerische Freiheitsbewegung FLN im Untergrund | |
aktiv war, dazu Neurophysiologin und Mutter dreier Kinder; die Autorin hat | |
sie persönlich kennengelernt, auch liegt Autobiografisches von ihr vor. | |
Mindestens so beeindruckend wie das Leben ihrer Figur ist jedoch Webers | |
Gattungswahl. Es werden ja immer mal wieder Kunstformen totgesagt – Punk, | |
Oper, Roman –, die einfach fröhlich weiterleben, aber das Versepos ist nun | |
wirklich seit über hundert Jahren mausetot. Wird es mal hervorgekramt, dann | |
als gelehrt-verschrobenes Kunstding von esoterischem Reiz wie [1][Ann | |
Cottens] „Verbannt!“ (2016). | |
[2][Und was macht Anne Weber?] Denkt sich wohl: Wo Heldin, da Epos; wo | |
Epos, da Vers, und tut es einfach. Aber ohne Reimzwang, festes Metrum und | |
historischen Muff – ihre Verse lesen sich locker weg, wie mutwillig | |
umgebrochene Prosa. | |
Und siehe da: Statt zu beschränken, eröffnet die tiefergehängte Form auf | |
einmal neue ästhetische Räume! Alles lässt sich hier ganz ungekünstelt | |
sagen, Zitate von Malraux oder Camus, Sachinformationen zur französischen | |
Geschichte werden zwanglos einfügt, und doch macht es, so merkt man rasch, | |
durchaus einen Unterschied, ob ein Satz in einen Vers passt oder darüber | |
hinausgreift: „Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. / Falls es ihn | |
gibt, so hat er sie gemacht.“ | |
Odysseus ist nicht weit | |
Natürliche Betonungen verflüssigen sich bis zum Blankvers, um sich | |
anschließend wieder im Prosarhythmus zu stauen wie der bretonischen Fluss | |
mit Tidenhub in Annettes Geburtsdorf. Hie und da wird mit einem Binnenreim | |
gespielt. Odysseus, der epische Held schlechthin, kommt auch mal vor; denn | |
im Untergrund ist Annette ein „Niemand“ wie er. Doch solche Anspielungen | |
kommen sympathisch zwanglos daher; der Text möchte verstanden werden. | |
Und ja: wo Epos, da Götter, oder zumindest ein Zug ins Höhere und Objektive | |
– die Form verführt zu Sentenzen und hält sie gleichzeitig in Zaum. So | |
heißt es vom bäuerlichen Vater eines algerischen Lebens- und Kampfgefährten | |
Annettes: | |
„Der Vater ist ein weiser Mann, er sieht die Dinge / nicht so eng wie man | |
sie immer sehen kann, / wenn man Muslim ist, oder Jude, oder Christ.“ | |
Der Mann ist Muslim, die Verse verallgemeinern aber so, dass seine | |
Beschreibung nicht mehr, wie realistisches Erzählen sonst, unsere | |
orientalistischen Stereotype aktiviert, um sie zu bestätigen oder zu | |
korrigieren. Nein, mit seiner Haltung ist hier zugleich auch unsere eigene | |
herausgefordert; auch wir haben, zu einer anderen Zeit, in ganz anderen | |
Zusammenhängen, die Wahl, was wir aus unseren Identitäten ableiten: | |
unbedingte Forderungen an uns und andere oder eine vorsichtige Offenheit. | |
Und so ist es auch mit dem Ethos der Widerstandskämpferin Annette: Das Epos | |
legt es uns als allgemeine Maxime unseres Handelns nahe und – das ist das | |
Wunderbare – hält es zugleich auf Distanz. | |
Leichtigkeit im Schwersten | |
Eine Befreiung! Denn anders als in vielen Gegenwartsromanen verhindert das | |
Erzählen in Versen insbesondere, dass wir in die Zwangsintimität von | |
Annettes Subjektposition gezwungen werden, dass wir automatisch von ihr aus | |
die Welt in Freund- und Feindliches unterteilen. An jeder Stelle bleibt | |
diese Frau unsere Heldin, wir bewundern ihren Mut und fiebern mit ihr mit – | |
aber wir müssen nicht gut finden, was sie tut. | |
Sie rettet Juden und verstößt dabei gegen den Codex der [3][Parti | |
Communiste Français], deren patriarchalen Strukturen sie sich sonst aber | |
unterwirft. Ihre FLN wirft Bomben in Straßenbahnen. „Was früher schlecht | |
war, – lügen, / spitzeln, stehlen –, ist jetzt gut, nur weil der Zweck / | |
ein guter ist für den mans tut.“ | |
Doch auch mit den Zwecken ist es so eine Sache: Annettes Hilfe beim Aufbau | |
des algerischen Gesundheitswesens trägt letztlich dazu bei, ein | |
religiös-diktatorisches Regime zu etablieren, das bis heute nachwirkt („Wer | |
Fortschritt wollte, hat jetzt Gleichschritt“). | |
Weber hat mit ihrem Heldinnenepos ein ästhetisches Verfahren gefunden, das | |
solchen sachlichen und ethischen Komplexitäten gerecht wird, wie sie jedem | |
Widerstand und jedem politischen Engagement (oder deren Fehlen) anhaften. | |
Es erzeugt eine Leichtigkeit noch im Schwersten und lässt uns damit eine | |
Freiheit, die gleichwohl verpflichtet. Es erreicht ein allgemeines Level | |
und behält doch stets das Konkrete im Auge, bis hinein ins Privateste, von | |
der Unterwäsche der Großmutter bis zum Liebesleben der Heldin. Und es | |
vergisst nicht, dass ein jeder Erzähltext immer auch von der Spannung lebt, | |
ohne dass er deshalb gleich nach dem üblichen Hollywood-Muster der | |
Heldenreise gestrickt sein müsste. | |
„Annette“ ist ein weises Epos. Es sieht die Dinge nicht so eng – aber es | |
lässt auch nichts einfach so durchgehen, weder seiner Heldin noch uns. So | |
unwahrscheinlich das auch klingen mag: Vielleicht liegt die Zukunft unserer | |
Gegenwartsliteratur ja im Versepos. | |
13 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Erzaehlband-der-Dichterin-Ann-Cotten/!5588238 | |
[2] /Anne-Webers-aktueller-Roman/!5390057 | |
[3] /Kommunalwahlen-in-Frankreich/!5696871 | |
## AUTOREN | |
Moritz Baßler | |
## TAGS | |
Buch | |
Literatur | |
deutsche Literatur | |
Widerstand | |
Theater | |
Literatur | |
Literatur | |
Literatur | |
Gegenwartsliteratur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Anne Webers Roman als Theaterstück: Lautstärke und Klamauk | |
„Annette, ein Heldinnenepos“ wird zum Theaterstück. Dušan David Pařízek | |
inszeniert Anne Webers Roman über Widerstand in Stuttgart. | |
Roman von Autorin Dorothee Elmiger: Eine Kammer des Wunderns | |
Die Schriftstellerin Dorothee Elmiger feiert im Roman „Aus der | |
Zuckerfabrik“ des schwelgende Lesen – und greift Themen wie Kolonialismus | |
auf. | |
Zora del Buonos „Die Marshallin“: Stilvolle Kommunistin | |
Zora del Buono hat mit „Die Marschallin“ ihrer Großmutter einen Roman | |
gewidmet. Die Arztgattin machte ihr Haus zum Treffpunkt für Kommunisten. | |
Vivian Gornick „Eine Frau in New York“: Die Flaneurin | |
„Eine Frau in New York“ von Vivian Gornick, das sehr lesenswerte Memoir | |
einer Flaneurin. Gornick gilt in den USA als Grande Dame des Feminismus. | |
Neue Maßstäbe der Gegenwartsliteratur: Schönheit, Stil und Geschmack | |
Der erste Roman der Autorin Karen Köhler wurde mit Neugier erwartet. Nun | |
ist er erschienen: „Miroloi“. Unseren Autor hinterlässt er auch ratlos. |