# taz.de -- Vivian Gornick „Eine Frau in New York“: Die Flaneurin | |
> „Eine Frau in New York“ von Vivian Gornick, das sehr lesenswerte Memoir | |
> einer Flaneurin. Gornick gilt in den USA als Grande Dame des Feminismus. | |
Bild: Kann man sogar drinnen, wenn das Haus groß genug ist: flanieren | |
In New York wäre es gar nicht so ungewöhnlich, Vivian Gornick in einem | |
Atemzug mit [1][Joan Didion] und [2][Susan Sontag] zu nennen. Vivian | |
Gornick, Jahrgang 1935, gilt dort als große Intellektuelle und als Grande | |
Dame des Feminismus. In Deutschland ist sie eine echte Neuentdeckung. Erst | |
letztes Jahr erschien ein Werk von Gornick erstmals in deutscher | |
Übersetzung, das autobiografische „Ich und meine Mutter“. Im Original | |
bereits 1987 veröffentlicht, wurde es 2019 von der New York Times zum | |
besten Memoir der letzten 50 Jahre gekürt. | |
Kaum ein Jahr später erscheint nun direkt die nächste deutsche Übersetzung | |
Gornicks. „Eine Frau in New York“, 2015 auf Englisch unter „The Odd Woman | |
and the City. A Memoir“ erschienen, ein Titel, der mit „odd“ ohne | |
Umschweife das Merkwürdige, Bemerkenswerte benennt. Nicht nur die Frau | |
schaut auf New York, sondern New York blickt auch auf diese eigensinnige | |
Frau. | |
Denn „Eine Frau in New York“ ist das Memoir einer Flaneurin im öffentlichen | |
Stadtraum. Einer Sozio-Archäologin fremder Schichten und | |
unterschiedlichster Stimmen. Allein das schon ist höchst erfreulich – zumal | |
so man sich vergegenwärtigt, dass der Flaneur, auch als literarische Figur, | |
seit Walter Benjamin und schon bei dem von ihm bewunderten Charles | |
Baudelaire durchweg den männlichen Blick auf die Stadt einnahm. | |
Während Baudelaire, beziehungsweise sein lyrisches Alter-Ego-Ich im | |
Gedichtband „Die Blumen des Bösen“ (1857) durch Paris streift, darf in | |
„Madame Bovary“ (übrigens im exakt selben Jahr 1857 erschienen) die Frau, | |
eingesperrt in die Ehe, im Provinzhaus über ihr gesellschaftliches | |
Schicksal klagen. Beschrieben obendrein vom männlichen Autor, Gustave | |
Flaubert. Der Ort des Mannes war die Öffentlichkeit. Der Ort der Frau: | |
Heim, Herd, heimliches Herzeleid. Von der Geburtsstunde der modernen | |
Literatur an. | |
## Weibliche Hauptfiguren | |
Das ändert sich freilich längst, auch in der Literatur. Und es fällt gerade | |
geballt an deutschen Übersetzungen auf. Auch „Chelsea Girls“ von Eileen | |
Myles (im Original schon 1994 erschienen) und „City of Girls“ von Elizabeth | |
Gilbert sind ebenfalls auf Deutsch erschienene Romane, angesiedelt im | |
historischen New York des 20. Jahrhunderts. Jeweils von Autorinnen mit | |
weiblichen Hauptfiguren, die ihren Blick auf die Stadt wagen – und | |
natürlich mit ihr in eine bei aller Symbiose doch freiheitsstiftende | |
Beziehung treten, mit dieser Stadt und ihren großen Versprechen. | |
Was man von Vivian Gornicks mit seinen 160 Seiten doch eher schmalem Memoir | |
nicht erwarten sollte, wäre [3][ein feministisches Traktat mit gezielt | |
politischer Agenda]. Auch kein naheliegendes Abhaken ihrer Lebensstationen, | |
obwohl da viel zu erzählen gewesen wäre, wie die Tochter jüdischer | |
Immigranten Lokalreporterin des alternativen Stadtmagazins Village Voice | |
wurde und mit einem Artikel eine neue Welle des Feminismus in den USA | |
einleitete. | |
## Literarische Miniaturen | |
Vielmehr gelingt es Vivian Gornick durch ihre lose verbundenen | |
literarischen Miniaturen meisterinnenhaft, ein Gefühl für ihr New York zu | |
geben – vieles davon so rund um die Jahrtausendwende, aber längst nicht | |
nur. Da sind die Gespräche mit ihrem besten, schwulen Freund Leonard, der | |
bei allem Zynismus niemals durch Hass selbst hässlich würde. Da ist das | |
gehörlose Kind in der U-Bahn, das mit seinem Papa sich per Zeichensprache | |
erheitert, an offenbar Lustigem, das außenherum niemand versteht. | |
Da sind die Besuche im Altenheim. Und der Bus, der eine Stunde hält, weil | |
ein Mann keine 1,25 Dollar für das Ticket hat. Da sind die schicken | |
Dinnereinladungen, bei denen der Talk nur Junkfood ist. Oder bei dem ein | |
oberflächlich höflicher Mann seiner Frau erklären will, was Vivian Gornick | |
denn eigentlich, in seiner gerafften Version, mit Feminismus meine. | |
Wobei, Vivian Gornick, die Lektüre ist natürlich mit Vorsicht zu genießen. | |
Denn bei allem Selbstoffenbarungsgestus ist „Eine Frau in New York“ ein | |
zwar assoziativ anmutendes, aber doch durchkomponiertes Buch, in dem die | |
Autorin, wie sie selbst anmerkt, Szenen fiktionalisiert hat. | |
Der [4][Vergleich mit Annie Ernaux liegt nahe], die in Frankreich schon | |
lange bekenntnisartige Literatur schreibt, die vom Intimsten zur | |
Makrosoziologie gelangt. Doch ganz so weit spannt Vivian Gornick den Bogen | |
nicht: Die Sex-Szenen sind nicht allzu detailliert, und auch die große | |
Gesellschaftsanalyse liefert Gornick in dieser autofiktionalen | |
Pageturner-Novelle nicht. | |
Aber dafür erlebt man etwas anderes, das nicht minder wertvoll ist. Diese | |
Frau lässt daran teilhaben, wie wunderbar es ist, anderen Stimmen zu | |
lauschen, ohne dabei die eigene zu vergessen – oder umgekehrt. | |
10 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Netflix-Doku-ueber-Joan-Didion/!5457717 | |
[2] /Neuer-Reader-zu-Susan-Sontag/!5475418 | |
[3] /Indische-Autorin-Meena-Kandasamy/!5700616 | |
[4] /Annie-Ernaux-ueber-1968-in-Frankreich/!5501337 | |
## AUTOREN | |
Stefan Hochgesand | |
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