# taz.de -- Eileen Myles' queeres Selbstfindungsbuch: Vom Privileg, authentisch… | |
> Eileen Myles legendäres Buch „Chelsea Girls“, Vorbild aktueller queerer | |
> Autofiktionen, ist nun erstmals auf Deutsch erschienen. | |
Bild: Schreiben, während die Stürme der Identität losbrechen: Autorin Eileen… | |
Eileen Myles schreibt 1994 im Vorwort der englischen Erstausgabe von | |
„Chelsea Girls“: „Ich musste vor allem sagen, was ich für real hielt.“… | |
dem Satz, so schlicht er zunächst erscheint, schwingt gleich etwas | |
Kämpferisches mit, das dieses Buch tatsächlich gerade auch heute | |
interessant macht. | |
Das Buch, das zwischen 1980 und 1993 entstand, hangelt sich an Myles’ | |
Biografie entlang, von der bildungsfernen Kindheit und Jugend im Boston der | |
50er und 60er bis hin zur New Yorker Poesie- und Performance-Szene Mitte | |
der 70er bis in die 90er Jahre. In 28 Abschnitten essayistischer Prosa | |
sehen wir der Protagonistin „Eileen Myles“ dabei zu, wie sie schreibt und | |
Pillen einwirft, sehr viel Sex hat und ins Summer Camp fährt. | |
Doch was ist die Realität einer Lesbe in prekären Verhältnissen, die sich | |
dauerhigh fragt, wie sich ein kohärenter Selbst- und Weltbezug überhaupt | |
herstellen lässt, während „die Stürme der Identität losbrechen und | |
implodieren“? „Chelsea Girls“ ist Autofiktion im besten Sinne. | |
Damit könnte Myles’ 26 Jahre altes Buch kaum mehr en vogue sein. Ob | |
[1][Maggie Nelsons] „Die Argonauten“, [2][Ocean Vuongs „Auf Erden sind wir | |
kurz grandios“] oder zuletzt [3][Garth Greenwells „Was zu dir gehört“]: … | |
Autofiktion ist ein queeres Genre. | |
Das hat damit zu tun, dass die Geschichten, die diese Autor*innen erzählen, | |
solche von fluiden Körpern und widerständigem Begehren und ungewohnten | |
Lebensentwürfen, in der Literatur immer noch unterrepräsentiert sind. Das | |
Bedürfnis, das abzubilden, was ist, ist umso stärker, wenn das eigentlich | |
gar nicht vorgesehen ist: „Lesbische Inhalte müssen immer sichtbar sein“, | |
schreibt Myles, sich heute als „nichtbinäre Dyke“ identifizierend, im | |
Essay-Band „The Importance of Being Iceland“. | |
## Manifest für lesbischen Sex | |
„Chelsea Girls“ ist auch ein Manifest für den lesbischen Sex. „Die erste | |
Frau steckte ihren Kopf zwischen meine Beine und die vollkommene Sünde, der | |
absolute Moment des Sex kehrte zurück“, berichtet die Protagonistin, die | |
immer mal wieder kein Geld für Essen hat und entrückt in die | |
Schreibmaschinentasten haut: „Feuchte Worte auf weichem biegsamem Papier. | |
Heilig Heilig Heilig.“ | |
Myles zu lesen, heißt teilzuhaben an einem übersteuerten Lebensgefühl, das | |
ziemlich ungesund und nicht haltbar ist, aber Ehrfurcht gebietet, solange | |
es dauert. Und das nicht nur in den zitierten Textstellen religiös anmutet. | |
Geschuldet ist das wohl auch dem Aufwachsen in einer katholisch-irischen | |
Arbeiterfamilie, unweit der US-Kaderschmiede Harvard und doch fern der | |
intellektuellen Elite. | |
Die Suche nach einer queeren schreibenden Identität bedeutet in „Chelsea | |
Girls“ somit eine zweifache Aneignung, die eines Mittelklasse-Habitus und | |
die eines männlich dominierten Zirkels aus Künstlern und Autoren. Die | |
Protagonistin hält die Spannung, indem sie mit Dutzenden Frauen schläft, | |
sich Nacht um Nacht auf Speed und Alkohol um die Ohren schlägt und mit | |
allen per du ist, die in der schreibenden Avantgarde etwas zu sagen haben, | |
vom Dichter James Schuyler bis zum Rockstar Patti Smith. | |
Damit stellt sie den Typus des geplagten und gleichsam charismatischen | |
Dichtergenies vom Kopf auf die Füße. Es ist eine ernst gemeinte | |
Performance, eine spielerische Selbstfindung. Identität, bringt es „Chelsea | |
Girls“ auf den Punkt, ist nicht selbstverständlich, das ganze Leben eine | |
einzige Autofiktion, wenn du queer bist und arm. „Ich bin so erzogen | |
worden, dass ich glaube, dass ich niemand bin.“ Authentisch zu sein, ist | |
ein Privileg. | |
Myles’ Schreiben und öffentliches Auftreten nimmt immer auch | |
Klassenverhältnisse in den Blick. 1992 kandidierte Myles im | |
US-Präsidentschaftswahlkampf und versprach, nicht im Weißen Haus zu wohnen, | |
solange es Obdachlose im Land gibt. Nicht nur wegen dieses jahrzehntelangen | |
öffentlichen Engagements hat Myles in den USA schon lange Kultstatus. | |
Maggie Nelson beschreibt, wie ihr eine der Co-Teilnehmerinnen an einem | |
Schreibworkshop in den 90ern andächtig ein aus dem Badezimmermüll | |
gefischtes Pflaster zeigte: „Das war Eileens Pflaster.“ Umso erfreulicher | |
ist, dass Myles jetzt endlich erstmals ins Deutsche übersetzt wurde. | |
25 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Maggie-Nelsons-Buch-ueber-die-Farbe-Blau/!5523691 | |
[2] /Ocean-Vuong-ueber-den-American-Dream/!5625041 | |
[3] /Debuetroman-von-Garth-Greenwell/!5494471 | |
## AUTOREN | |
Eva Tepest | |
## TAGS | |
Literatur | |
Autofiktion | |
Queer | |
USA | |
Literatur | |
Literatur | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Autorin Claudia Durastanti: Weglaufen, um sich frei zu fühlen | |
In ihrem Roman „Die Fremde“ erzählt Claudia Durastanti von ihrer gehörlos… | |
Mutter – und einer „Dickens-Kindheit“ in Armut in den USA. | |
Vivian Gornick „Eine Frau in New York“: Die Flaneurin | |
„Eine Frau in New York“ von Vivian Gornick, das sehr lesenswerte Memoir | |
einer Flaneurin. Gornick gilt in den USA als Grande Dame des Feminismus. | |
Neues Buch von Sängerin Patti Smith: Dann doch Wodka statt Kaffee | |
Patti Smith, die Godmother of Punk, erzählt in ihrem neuen Buch, „Im Jahr | |
des Affen“ über ihre Verluste im Katastrophenjahr 2016. | |
Essay Queerness in der Politik: Lasst uns Banden bilden! | |
Die Sehnsucht nach dem Ende traditioneller Genderrollen ist groß. Damit | |
lässt sich Politik machen: Eine starke linke Bewegung braucht mehr | |
Queerness. |