| # taz.de -- Essay Queerness in der Politik: Lasst uns Banden bilden! | |
| > Die Sehnsucht nach dem Ende traditioneller Genderrollen ist groß. Damit | |
| > lässt sich Politik machen: Eine starke linke Bewegung braucht mehr | |
| > Queerness. | |
| Bild: Allianzenbildung im Privaten auf dem Christopher's Street Day 2018 in Ber… | |
| Ich habe seit Jahren keine heterosexuell lebende Frau mehr getroffen, die | |
| sich nicht wünschte, auf Frauen zu stehen. Keinen heterosexuell lebenden | |
| Mann, der sich nicht gern von seiner Partnerin penetrieren lassen würde. | |
| 2016 identifizierten sich 11,5 Prozent der 15- bis 29-Jährigen hierzulande | |
| laut einer „EuroPulse“-Umfrage als LGBT. Nicht heterosexuell, queer zu sein | |
| ist so en vogue wie der [1][US-Schauspieler Ezra Miller in High Heels auf | |
| dem Cover des Playboys]. | |
| Das Einverständnis mit traditionellen Genderrollen zerbröckelt immer mehr, | |
| während das Versprechen der Heterosexualität immer weniger überzeugt. Denn | |
| mit Donald Trump, Jair Bolsonaro und Viktor Orbán verwirklichen alte weiße | |
| Männer ihre wahnhaften Vorstellungen von autoritärer Männlichkeit zum | |
| Leidwesen von Frauen, Queers, Armen und Schwarzen Personen. | |
| Angesichts der politischen Weltordnung ist die Sehnsucht nach einem Ende | |
| der Geschlechterordnung überwältigend. Mit dieser queeren Sehnsucht lässt | |
| sich Politik machen: Sie ermöglicht, genau jene solidarische Allianzen zu | |
| bilden, von denen Linke träumen. Und genau das hat die zerfaserte deutsche | |
| Linke, die allzu oft Klassenkampf und queere Bewegung gegeneinander | |
| ausspielt, bitter nötig. | |
| Wie also könnte solche queere Allianzenbildung aussehen? Das beschäftigte | |
| die 2009 verstorbene Queertheoretikerin Eve K. Sedgwick. Sie forderte, | |
| Sexualität und Geschlecht als uneindeutig zu betrachten: als queer. Und | |
| darauf eine solidarische Praxis zu gründen. Sedgwick zufolge ist Queerness | |
| nicht das Gegenteil von Heterosexualität, sondern der Punkt, an dem jede | |
| eindeutige sexuelle und geschlechtliche Identität uneindeutig wird. | |
| ## Solidarität: Fehlanzeige | |
| Sedgwick versteht alle Menschen als queer, denn sie sind voll von | |
| widersprüchlichen Wünschen und der Sehnsucht danach, dem | |
| zweigeschlechtlichen Zwangssystem zu entkommen. Aus diesem Bewusstsein | |
| heraus entspringt, so Sedgwick, eine solidarische Haltung im Kampf gegen | |
| Missstände, die ebenfalls keinen Halt machen vor eindeutigen Identitäten. | |
| Ein Beispiel ist der Kampf gegen HIV/Aids. In den 90ern kämpften die | |
| Anti-Aids-Aktivistinnen des Verbandes „Act Up“ in Frankreich und den USA | |
| nicht nur gegen Homofeindlichkeit, sondern auch gegen die Pharmabranche, | |
| für die Abschaffung von Gefängnissen und die Rechte von Sexarbeiter*innen – | |
| [2][die Geburtsstunde der queeren Bewegung]. | |
| Der Schwulen- und Lesbenbewegung wirft Sedgwick hingegen vor, einer kleinen | |
| Zahl von Homosexuellen die Anliegen anderer Benachteiligter zu opfern und | |
| sich etwa für die Ehe für alle anstatt gegen die fortschreitende Aids-Krise | |
| zu engagieren. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist hierzulande der | |
| CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn, der zwar für schwul-lesbische Belange | |
| wie die Kassenfinanzierung der HIV-Prophylaxe PrEP und ein Ende der | |
| Konversionstherapie eintritt, aber Hartz-IV-Empfänger*innen und | |
| Asylsuchende über die Klinge springen lässt. Solidarität: Fehlanzeige. | |
| Sedgwicks Überlegungen sind anschlussfähig an Analysen zur Neuen Rechten. | |
| Denn viele dieser Analysen beschäftigen sich mit der Frage, wie der Erfolg | |
| von identitärer Bewegung und rechten Parteien mit dem Verlust von | |
| Solidarität in der Linken zusammenhängt. Einen besonders interessanten | |
| Ansatz verfolgt der französische Autor [3][Didier Eribon]. | |
| Er argumentiert, dass die Entscheidung für rechte Parteien wie AfD, Front | |
| National und Co. sich aus Frauenhass und Rassismus speist, aber auch aus | |
| der Erfahrung ökonomischer Härten und sozialer Abstiegsangst. Rechte nutzen | |
| diese Angst vor dem Verlust der Selbstwirksamkeit im Zuge von | |
| Prekarisierung, Schikanen auf dem Amt oder Altersarmut für ihre Zwecke. | |
| ## „all classes, races, sexes and sexualities count“ | |
| Das war nicht immer so: Eribon zufolge bildeten lange Zeit nicht | |
| Verlustangst, sondern die Sehnsucht nach einem Ende ökonomischer Ausbeutung | |
| die Grundlage einer solidarischen linken Politik. Diese Deutungsmacht hat | |
| die europäische Linke, so Eribon, durch neoliberale Reformpakete ab den | |
| 90er-Jahren verspielt. In Rückkehr nach Reims schreibt er: „Die fehlende | |
| Mobilisierung als Gruppe bzw. die fehlende Selbstwahrnehmung als | |
| solidarisch-mobilisierbare Gruppe führt dazu, dass rassistische Kategorien | |
| die sozialen ersetzen.“ | |
| An die Stelle von Solidarität tritt Hass. So ersetzt die AfD die Utopie vom | |
| Ende des Kapitalismus durch eine kulturelle Deutung sozialer Verlustangst. | |
| In ihrem Wahlprogramm fordert sie zwar das Ende der Agenda 2010-Reformen. | |
| Doch faktisch steht da, wo sonst eine Vision wäre, bloß ein sentimentales | |
| lichtblaues Versprechen: Familie, Volkskörper, D-Mark. | |
| Sedgwick und Eribon lehren, dass die eigene Positionierung – wie die, | |
| nicht-heterosexuell oder sozial abgehängt zu sein – eine solidarische | |
| Vision ermöglichen kann, aber nicht muss. Als Sehnsucht nach einem besseren | |
| Leben für viele hat diese Vision ein enormes Mobilisierungspotenzial. Das | |
| beherzigen auch die vielen queeren Aktivist*innen, die nicht nur die | |
| Geschlechter-, sondern auch die Klassenverhältnisse umstürzen wollen. | |
| Eileen Myles, queere Lesbe und „working class poet“ warb in seinem*ihrem | |
| Präsidentschaftswahlkampf 1991/92 für eine Politik der Außenseiter*innen: | |
| „all classes, races, sexes and sexualities count“. Der 1991 verstorbene | |
| Autor Robert M. Schernikau entwarf eine schwule, kommunistische Utopie. Und | |
| während die Gruppe „Lesbians and Gays Support the Miners“ den britischen | |
| Bergbaustreit Mitte der 80er unterstützte, riefen zum Frauenkampftag jüngst | |
| queer-feministische Gruppen zum bundesweiten Streik auf. | |
| Daran könnten sich deutsche Linke ein Beispiel nehmen. Denn sie scheuen | |
| häufig davor zurück, sich unter ihrer Klientel nicht nur heterosexuelle | |
| weiße Arbeiter vorzustellen. Die ehemalige Linken-Fraktionschefin [4][Sahra | |
| Wagenknecht] spielt vermeintliche „Minderheitenrechte“ gegen soziale Fragen | |
| aus und stempelt „Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz“ als | |
| „Wohlfühl-Label“ ab. | |
| Als Teil der Großen Koalition hat die SPD mitverantwortet, dass trans | |
| Personen zur Personenstandsänderung weiterhin psychologische | |
| Zwangsgutachten benötigen und die Chance auf eine Streichung des | |
| Geschlechtseintrags nach dem Verfassungsgerichtsurteil zum Dritten | |
| Geschlecht verspielt. Und auch die radikale, anti-parlamentarische Linke | |
| behauptet die Rechte von Queers oft als „Nebenwiderspruch“, also als bloße | |
| Begleiterscheinung des „Hauptwiderspruchs“ Kapitalismus. | |
| Dabei sind geschlechtliche und sexuelle Beziehungen immer auch | |
| Klassenbeziehungen: Schwule und Lesben leiden häufig an Altersarmut, da | |
| schwule Pensionäre oft aufgrund einer langen HIV-Erkrankung nicht | |
| ausreichend in die Rentenkassen einzahlen konnten und Lesben – als | |
| schlechter verdienende Frauen – im Alter nicht durch einen besser | |
| gestellten Ehemann aufgefangen werden. Überdurchschnittlich viele | |
| Sexarbeiter*innen sind trans Frauen. Ihre Bedürfnisse in der | |
| Gesundheitsversorgung sollten Teil einer konsequenten arbeitsrechtlichen | |
| Destigmatisierung von Sexarbeit sein. | |
| Das Ende von Ausbeutung ist ebenso wenig zu haben ohne ein Ende der | |
| Geschlechterordnung wie andersherum. Und eine schlagkräftige linke Bewegung | |
| kann nicht auf die geballte queere Energie verzichten. Die Sehnsucht nach | |
| neuen Formen von Geschlecht und Begehren ist schon jetzt allgegenwärtig. Es | |
| wird Zeit, dass sie zur Massenbewegung wird. | |
| 21 Apr 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.playboy.com/read/ezra-miller-fantastic-beasts-interview | |
| [2] /Aids-Aktivist-ueber-Queerness-und-Kunst/!5034081 | |
| [3] /Theaterfassung-Rueckkehr-nach-Reims/!5447872 | |
| [4] /Nach-dem-Abgang-Wagenknechts/!5580846 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva-Maria Tepest | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
| Queer | |
| Bewegung | |
| Solidarität | |
| Schwerpunkt LGBTQIA | |
| Allianz | |
| Queer | |
| Literatur | |
| Feminismus | |
| Schwerpunkt Europawahl | |
| Trans-Community | |
| Bundesministerium für Gesundheit | |
| US-Demokraten | |
| Rechter Populismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Soziologin über Queere Stadtplanung: „Verschiedene Blickwinkel“ | |
| Lange wurde nicht versucht, Städte inklusiver zu gestalten. Stadtplanung | |
| gilt noch als heterosexistisch. Ein Gespräch mit Soziologin Nina Schuster. | |
| Eileen Myles' queeres Selbstfindungsbuch: Vom Privileg, authentisch zu sein | |
| Eileen Myles legendäres Buch „Chelsea Girls“, Vorbild aktueller queerer | |
| Autofiktionen, ist nun erstmals auf Deutsch erschienen. | |
| Kolumne Liebeserklärung: Ein herrliches Land | |
| Die Schweiz ist eher für guten Käse bekannt als für gute Familienpolitik | |
| und Gleichberechtigung. Aber zumindest eins dürfen die Frauen: streiken. | |
| LGBTI-Rechte in Europa: Es bleibt ein Kampf | |
| Zwar hat sich viel getan in der Genderpolitik, in der Praxis finden die | |
| Ergebnisse aber nicht überall Beachtung. Wie steht es um Rechte von LGBTI? | |
| Schule für trans Kinder in Chile: Lernen ohne Stigma | |
| Mit freiwilligen Lehrer*innen versucht eine Schule für trans Schüler*innen | |
| in Chile eine auseinanderdriftende Gesellschaft zusammenzubringen. | |
| Geplantes Verbot von „Homo-Heilung“: Verbotsvorschläge verspäten sich | |
| Jens Spahn wollte bis zum Sommer Vorschläge für ein Verbot von | |
| „Konversionstherapien“ vorlegen. Nun soll eine Kommission bis zum Herbst | |
| arbeiten. | |
| Serienstar will Gouverneursposten: Politics and the City | |
| Cynthia Nixon war die Anwältin Miranda in „Sex and the City“. Jetzt will | |
| die 52-jährige den Bundesstaat zu einer progressiven Hochburg machen. | |
| Nancy Fraser über Populismus: „Eine neue, linke Erzählung bieten“ | |
| Die Politikwissenschaftlerin und Feministin Nancy Fraser über | |
| Identitätspolitik, soziale Gerechtigkeit und neue linke | |
| Anti-Trump-Koalitionen. |