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# taz.de -- Schule für trans Kinder in Chile: Lernen ohne Stigma
> Mit freiwilligen Lehrer*innen versucht eine Schule für trans
> Schüler*innen in Chile eine auseinanderdriftende Gesellschaft
> zusammenzubringen.
Bild: Noch ist ungewiss, wie lange die aktuelle Hasswelle gegen trans Menschen …
Santiago de Chile taz | Die Stühle im Klassenzimmer der
Amaranta-Gomez-Schule sind in einem Kreis aufgestellt. Es dauert eine
Weile, bis die Kinder, die zwischen 7 und 16 Jahre alt sind, zur Ruhe
kommen. Groß, schlank und schön steht Miss Antonia Jorquera vor Ihnen – mit
Krone und Schärpe. Jorquera ist Miss Trans Chile und gekommen, um mit den
Kindern der trans-feministischen Schule zu sprechen. Die Lehrerin Profe
Romina Ramírez und die meisten Kinder sind transident. Jorquera winkt den
Mädchen zu, die sie anstarren, als wäre sie eine Disneyprinzessin. Jorquera
spricht über ihre Kindheit im chilenischen Süden, wo es kaum Fernsehen gab.
Eine Zeit, in der sie die Farbe Pink liebte.
„Genau wie ich!“, antwortet ihr ein Mädchen. Jorquera lacht: „Damals habe
ich mir auch die Highheels meiner Mutter angezogen“, erzählt sie weiter.
„Hast du das heimlich gemacht?“, fragt ein anderes Mädchen. „Jeden Tag h…
ich das gemacht! Aber heimlich, sonst hätte meine Mutter mich geschimpft.“
„Meine Mama lässt mich!“, gibt eine weitere an. Die Nebengespräche laufen
eine Zeit weiter. Profe Ramírez schreitet ein: [1][„Wer von euch weiß denn,
was eine Miss ist?“]
Die Schule wurde vor einem Jahr von Ximena Maturana und einer weiteren
Mutter eines trans Mädchens gegründet. Benannt wurde sie nach der
mexikanischen trans Aktivistin und Sozialanthropologin Amaranta Gómez. „Wir
haben ungefähr 50 Familien, mit denen wir aktiv zusammenarbeiten“, erzählt
Maturana. „Das hier ist eine gemeinschaftliche Arbeit: Kind, Familie und
Schule. Unsere Stiftung arbeitet eng mit allen Schulen, auf die unsere
Kinder gehen, zusammen.“
Gewalt in den Schulen könne viele Formen annehmen, berichtet Maturana, aber
oft komme sie in Gestalt von kleinen Stichen. Wenn sie ihre Tochter abhole
und die Blicke aller Eltern auf sich spüre: „Ich habe kein Problem mit dir,
aber komme meinem Kind nicht zu nahe“, spreche es aus den Augen der Eltern.
„Man merkt es kaum, und schon ist dein Kind das einzige, das nicht zu den
Geburtstagsfeiern eingeladen wird. Es ist traurig, wenn alle Kinder auf den
Geburtstagsfotos sind außer deines.“
Der Besuch der Miss wird sowohl für sie selbst als auch für die Kinder zur
Möglichkeit, Frust über ihre Erfahrungen im traditionellen Schulsystem
abzulassen. Ein ungefähr zehnjähriges trans Mädchen erzählt, wie ein Lehrer
ihr einmal ein Bein stellte und sie zu Boden fallen ließ. Eine andere
Schülerin erinnert sich an Mobbingsituationen. Ein schwuler Freund sei so
oft verprügelt und gemobbt worden, dass er sich auf der Schultoilette
versteckt und sich den Finger gebrochen habe, als er voll Wut gegen die
Wand schlug. Dann erzählt sie von einer Situation, in der sie nach
konstantem Mobbing so sauer wurde, dass sie ein anderes Mädchen
verprügelte.
Schnell schreitet Ramírez ein, um die Kinder daran zu erinnern, dass Gewalt
nicht die Lösung dieser Probleme ist. Eine Schülerin widerspricht ihr – es
sei nur normal auszurasten, wenn man so viel Wut in sich sammle. Profe
Ramírez kennt sich aus mit angestauter Wut. Sie ist Geschichtslehrerin und
Aktivistin für Transrechte, musste jedoch ihr Pädagogikstudium zehn Jahre
lang für ihre Transition unterbrechen. Vor zwei Jahren, kurz nach ihrer
Namensänderung, hat sie den Abschluss gemacht. Zur Zeit unseres Gesprächs
hat sie endlich ihr Zeugnis mit ihrem neuen Namen abholen können.
## Keine Anerkennung des Ministeriums
Oft merken Eltern, dass ihr Kind es nicht aushält, weiterhin auf die
gleiche Schule zu gehen, während das Kind in der Transitionsphase ist. Dann
nehmen sie ihre Kinder von der Schule und lassen sie vorerst zu Hause
bleiben. Die Amaranta-Gomez-Schule hat es sich zum Ziel gemacht, dieses
Stigma sowie die damit einhergehende Unterbrechung der Schulbildung zu
beenden. Der Unterricht beginnt um 9 Uhr morgens, Maturana kommt jedoch
schon um 7.15 Uhr an, um eines der Mädchen zu betreuen – dessen Eltern
können sie nur um diese Uhrzeit an der Schule absetzen. „Wir versuchen, so
unkompliziert wie möglich zu sein, damit die Eltern ihre Kinder zu uns
bringen können. Es soll keine Ausreden dafür geben, dass die Kinder nicht
kommen.“
Die Amaranta-Gomez-Schule heißt Escuela auf Spanisch, und nicht Colegio.
Zwei Wörter, die im Spanischen oft als Synonyme behandelt werden – es gibt
jedoch einen entscheidenden Unterschied. Hieße sie Colegio, wäre sie
offiziell vom Bildungsministerium anerkannt. Hierfür müsste die Schule
verschiedene Voraussetzungen erfüllen. Silva und Maturana sind sich nicht
sicher, ob sie diese erfüllen wollen.
Dennoch war Marcela Cubillos, die Bildungsministerin, einmal zu Besuch und
hat einen Preis überreicht. „Den Namen des Preises habe ich vergessen“,
sagt Maturana. „Irgend sowas wie bestes Verhältnis unter den Schülern.“ S…
scheint noch immer etwas verblüfft zu sein von dem Besuch, schließlich ist
Ministerin Cubillos so konservativ, dass sie als Abgeordnete 2004 gegen die
Legalisierung der Scheidung stimmte.
Das Wichtigste an der Anerkennung, ist, dass Schulen dann vom Staat
finanziert werden. In der Amaranta-Gomez-Schule sind derzeit alle Lehrenden
ehrenamtlich tätig, der Schulbesuch ist gratis. Die Schule finanziert sich
über Unterstützung der chilenischen NGO Alquimia und will sich auch auf den
International Trans Fund bewerben.
## Konservative und Rechte
Wie viele andere Orte dieser Welt befindet sich Chile derzeit zwischen zwei
gegensätzlichen Kräften. Einerseits hat die chilenische Schauspielerin
Daniela Vega als erste trans Person einen Oscar gewonnen – für den Film
„Eine fantastische Frau“, in dem sie die Hauptrolle spielt, in der
Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“. Auch die Rechtslage in Chile zur
Geschlechtsidentität wurde reformiert, sodass die offizielle Anerkennung
von Transidentitäten nicht mehr wie zuvor Jahre dauert.
Andererseits sind auch faschistische Kräfte weit verbreitet in Chile.
Pinochet-Verehrer José Antonio Kast erreichte bei den
Präsidentschaftswahlen 2017 sieben Prozent der Stimmen. Er repräsentiert
die extreme Rechte, unter ihnen Neonazis und Evangelikale. Vor wenigen
Monaten protestierten Konservative gegen „Genderideologien“. Tausende
nahmen teil, darunter Neonazi-Splittergruppen, die K-Pop tanzende Kinder
verprügelten. Die Polizei – normalerweise bekannt für den erbarmungslosen
Einsatz von Tränengas bei jeglichem Protest – lief knüppelschwingend ganz
vorne mit, um die Demonstrierenden abzuschirmen. Unterstützt von der
Regierungshaltung, dass die Redefreiheit der Konservativen zu schützen sei.
Noch hat es keine physischen Attacken gegen die Amaranta-Gomez-Schule
gegeben. Maturana glaubt, dass das mit der Nachbarschaft zu tun hat. Im
Unterschied zu anderen Vierteln in Santiago ist Villa Olímpica eines mit
Geschichte. Als letzte Bastion des Sozialwohnungswesens in Chile liegt es
ganz in der Nähe des Nationalstadions, welches als Folter- und
Vernichtungslager in der Zeit des Pinochet-Regimes diente. In gleichen
Viertel wurden, Jahre später, Freiheitskämpfer, die sich in der Gegend
versteckt hielten, von den Soldaten des Diktators ermordet. Nach der
Verwüstung durch das Erdbeben 2010 organisierten sich die Nachbarn in einer
bis heute bestehenden Initiative, die Dienstleister wie Putztruppen,
Newsletter, Freizeitaktivitäten und eine mobile Bücherei anbietet.
Sie fühlen sich sicher hier. Dennoch gibt die Schule ihre genaue Adresse
lieber nicht öffentlich bekannt.
## Anliegen sichtbar machen
Noch ist ungewiss, wie lange [2][die aktuelle Hasswelle gegen trans
Menschen] andauern wird. Profe Ramírez ist ehrlich. Ihr Rat ist wichtig für
die Kinder, besonders für die Älteren, die sich in naher Zukunft an
Universitäten und Arbeitsplätzen bewerben werden: „Die Kinder müssen
lernen, sich selbst zu verteidigen. Nicht damit sie randalieren, aber damit
sie wissen, dass es da draußen Gewalt gegen sie gibt – ihnen das nicht
beizubringen wäre unverantwortlich.“
Gegenüber den kleineren Kindern verfolgt Ramírez eine andere Strategie:
„Ich persönlich versuche ihnen einfach zu ermöglichen, ihre Kindheit
auszuleben. Ich spreche nicht über Politik, Gender und ähnliche Themen mit
ihnen. Das sind Kinder, die denken über Disneyfilme und Weihnachten nach.
Sie wollen schreien und spielen und springen.“
Als Profe Ramírez die Kinder fragt, was eine Miss ist, antwortet ein
Mädchen: „Eine schöne Frau, eine Diva!“ Ein Junge witzelt: „Das erschei…
in meinen Computerspielen, wenn ich danebenschieße: ‚Miss!‘“ „Was ist …
dich eine Miss, Antonia?“, wollen die Kinder von ihrer Besucherin wissen.
„Eine Miss zu sein bedeutet viele Dinge.“ Miss Chile Trans lächelt, mit
sanften Gesten, während sie spricht: „Es geht dabei nicht um
Schönheitsstandards. Es geht darum, Anliegen sichtbar zu machen, die
normalerweise nicht gezeigt werden. Menschen zu repräsentieren, die
versteckt leben.“
Übersetzung: Lea Bresselau von Bressensdorf
Dieser Text erschien zuerst auf dem englischsprachigen Blog
theestablishment.co
8 May 2019
## LINKS
[1] /Miss-Trans-Israel/!5304897
[2] /Kolumne-Lost-in-Translation/!5588632
## AUTOREN
Octavio García Soto
## TAGS
Trans-Community
Trans
Bildung
Santiago de Chile
Chile
Schwerpunkt LGBTQIA
Transgender
LGTBI
Transgender
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Lost in Trans*lation
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