# taz.de -- Forscherin zu Selbstbestimmungsgesetz: „Das ist mein Geschlecht“ | |
> Die Bundesregierung legt die Eckpunkte für das Selbstbestimmungsgesetz | |
> vor. Wissenschaftlerin Naina Levitan hofft auf den großen Wurf. | |
Bild: Die Demonstrationen vor dem Reichstag waren nicht umsonst | |
taz: Frau Levitan, am Donnerstag wollen das Justiz- und Familienministerium | |
Eckpunkte für das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz vorlegen, mit dem | |
jeder Mensch sein Geschlecht selbst definieren kann. Wie finden Sie das? | |
Naina Levitan: Für viele Betroffene ist dies ein wichtiger Schritt. | |
Zunächst geht es bei dem [1][Selbstbestimmunsgesetz] erstmal um das Recht | |
eines Individuums, selber bestimmen zu können, welchen Namen es tragen | |
möchte und welchem Geschlecht es sich zugehörig fühlt. Dann können | |
Dokumente wie der Personalausweis angepasst werden. Es ist erstmal ein | |
rechtlicher Schritt und hat wenig mit psychologischer oder medizinischer | |
Begleitung zu tun. | |
Für wen ist das Gesetz sinnvoll? | |
Es gibt Menschen, auch Kinder, die unter einer sogenannten Gender Dysphorie | |
leiden. Dysphorie beschreibt den Leidfaktor, wenn es eine Diskrepanz | |
zwischen dem erlebten und dem von Außen zugeschriebenen Geschlecht gibt. Es | |
gibt auch Menschen, die diese Diskrepanz erleben, ohne dass es mit einem so | |
heftigen Leid einhergeht. Dann spricht man von einer Gender Inkongruenz. | |
Wie drückt sich so ein Leid aus? | |
Zum einen sind es körperliche Leiden. Betroffene, die an Gender Dysphorie | |
leiden, können sich im eigenen Körper sehr unwohl fühlen. Während der | |
Pubertät kann es für Menschen mit Gender Dysphorie sehr heftig werden, da | |
sie in einem sehr kurzen Zeitraum große körperliche Veränderungen | |
durchlaufen. Manche Jugendliche beschreiben dann, dass es sich anfühle, als | |
würde der eigene Körper einen hintergehen. Je nach Hormonen eben Stimmbruch | |
oder Brustwachstum. | |
Würde das Selbstbestimmungsgesetz die Lage der Betroffenen ändern? | |
Sicherlich. Durch die Reduzierung der bürokratischen Hürden können Personen | |
einfacher zum Amt gehen und sagen: das ist mein Geschlecht und das ist mein | |
Vorname. | |
Viele Menschen, die das Gesetz kritisch sehen, äußern vor allem die Sorge, | |
dass es [2][für kriminelle Zwecke missbraucht] werden könnte. Besteht eine | |
solche Gefahr? | |
Ich persönlich teile diese Angst nicht, insbesondere bei Kindern und | |
Jugendlichen kann ich mir da kein realistisches Szenario ausmalen. Ich | |
glaube, diese Sorge entsteht, wenn man kein Verständnis dafür hat, von | |
gesellschaftlichen Geschlechternormen abzuweichen. Sich freiwillig so | |
vulnerabel zu machen, ist sicherlich keine leichte Entscheidung. | |
Kommen wir zurück zu den Betroffenen. Wie viele Menschen betrifft Gender | |
Dysphorie? | |
Das ist schwer zu sagen. Erstmal wissen wir gar nicht, wie viele Menschen | |
überhaupt von einer Gender Inkongruenz betroffen sind, da sie nicht | |
zwangsläufig statistisch erfasst werden. Bis 2011 war es in Deutschland | |
noch verpflichtend, eine Sterilisation vorzunehmen, um den Personenstand | |
ändern zu können. | |
Wann nehmen Kinder überhaupt das Geschlecht wahr? | |
Auch hier gibt es individuelle Unterschiede. Grundsätzlich entsteht im | |
Alter von zwei Jahren das Bewusstsein, dass es Geschlechter gibt. Im Alter | |
von drei können sich viele Kinder zuversichtlich einem Geschlecht zuordnen. | |
In der Pubertät sind viele Jugendliche so schon unzufrieden mit ihrem | |
Körper, außerdem sind sie trotzig oder wechseln ständig ihre Meinung. Ist | |
es wirklich zielführend, dass man ihnen im Alter von 14 Jahren die | |
Möglichkeit auf Selbstbestimmung in Bezug auf Geschlecht gibt? | |
Wie bei allen Themen ist es wichtig, [3][Kinder und Jugendliche] nicht | |
abzuwerten oder in ihrer Wahrnehmung zu diskreditieren. Man muss ihnen | |
helfen, Entwicklungen zu durchlaufen und sich dem nicht resistent | |
gegenüberzustellen. Die aktuelle Datenlage weist klar darauf hin, dass im | |
Kindesalter Fluidität und Ergebnisoffenheit besonders wichtig sind – ebenso | |
wie Selbstwahrnehmung und Förderung des Selbstvertrauens. | |
Was macht es mit Eltern, [4][wenn das eigene Kind Gender Dysphorie] äußert? | |
Für Eltern ist es schwer, wenn Kinder Leid äußern. Manchen Eltern fällt es | |
leichter, Kinder in ihren Wünschen Raum zu geben. Andere Eltern machen sich | |
viele Sorgen, was so etwas für das eigene Kind bedeuten kann. Hier ist es | |
Aufgabe von Expert:innen, Ruhe reinzubringen und zu erklären, dass das | |
prinzipiell erstmal keine problematische Entwicklung ist. | |
Was passiert, wenn die Eltern ihre Kinder nicht unterstützen? | |
Es gibt Studien, die belegen, dass mangelnde Unterstützung eher mit | |
psychosozialen Problemen verbunden ist. Depressionen, Angststörungen oder | |
auch selbstverletzendes Verhalten wie Selbstverstümmelung und Suizid. | |
Also, dass sich trans Mädchen ihren Penis abschneiden? | |
Solche Fälle hat es durchaus gegeben. Aber das sind Extremfälle. | |
Suizidgedanken und Versuche sind wiederum gar nicht so selten, insbesondere | |
bei Jugendlichen, die keine Unterstützung erfahren. Auch deshalb ist es | |
wichtig, diese Kinder und Jugendlichen nicht im Stich zu lassen. Viele | |
erwachsene trans Menschen äußern, dass sie bereits in der Pubertät von | |
ihrer trans Identität wussten. Deswegen wäre es gut, dass Kinder nicht die | |
körperlichen Veränderungen durchmachen müssen. Das sind Dinge, wo wir vorab | |
eingreifen könnten. | |
30 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Shoko Bethke | |
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