# taz.de -- Geschlechtsidentität von Minderjährigen: Neue Leitlinie schafft K… | |
> Was tun, wenn bei Kindern und Jugendlichen Geschlechtsidentität und | |
> zugewiesenes Geschlecht nicht übereinstimmen? Forscher:innen | |
> präsentieren eine neue Leitlinie. | |
Bild: Christopher Street Day in Brandenburg an der Havel | |
Nicht jeder medizinische Fortschritt entsteht im Geistesblitz, mancher | |
braucht langwierige Diskussionen. Bei der neuen Leitlinie zu | |
Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie war das der Fall. Sieben | |
Jahre lang haben 27 Fachgesellschaften und zwei Betroffenenorganisationen | |
um die bestmögliche Begleitung von Kindern und Jugendlichen gerungen, deren | |
[1][Geschlechtsidentität] nicht mit dem Eintrag in der Geburtsurkunde | |
übereinstimmt. Noch befindet sich der Text in einer vierwöchigen | |
Kommentierungsphase, danach steht die erste neue Leitlinie seit 25 Jahren. | |
Die 2013 aktualisierte und inzwischen abgelaufene letzte Leitlinie von 1999 | |
stammt also aus einer Zeit, als man Männer metrosexuell nannte, wenn sie | |
enge Hosen an hatten. Seitdem hat sich nicht nur in der Gesellschaft, | |
sondern auch in der Wissenschaft einiges am Geschlechterverständnis | |
geändert. | |
Die Forschung weiß heute mehr über das komplexe Zusammenspiel von Hormonen | |
und Chromosomen. Vor allem gesteht sie ein, was sie noch nicht weiß. Die | |
zunehmende Akzeptanz von trans- und nichtbinären Identitäten spiegelt sich | |
inzwischen in mehreren internationalen Richtlinien wider. Auch das | |
Bundesverfassungsgericht hat die geschlechtliche Identität mehrfach zur | |
höchstpersönlichen Angelegenheit erklärt. Gleichzeitig wütet um den | |
richtigen Umgang mit Geschlecht vor allem bei Jugendlichen ein | |
eskalierender Kulturkampf. | |
„Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz waren immer schon da“, | |
sagt Dagmar Pauli, stellvertretende Direktorin der Kinder- und | |
Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Zürich, gleich am Anfang einer | |
Pressekonferenz, auf der [2][der neue Leitlinienentwurf] von einem | |
interdisziplinären Forscher*innenteam vorgestellt wurde. „Aber früher | |
gab es keine Anlaufstellen.“ Die Folge war eine große Verunsicherung bei | |
den Behandelnden und eine teils desaströse Lage für die Betroffenen, so die | |
Forscher*innen. | |
## Große Zustimmung | |
Das soll sich ändern. Ein wichtiger Schritt dahin ist, dass die neue | |
Leitlinie im Gegensatz zum informellen Expert*innen-Konsens der alten | |
Leitlinie die geeinte Meinung eines ganzen Gremiums von Organisationen | |
ausdrückt. Das gibt Sicherheit in einem Feld, das manchmal als umstritten | |
gilt. Jetzt sprechen Psychologie und Kinder- und Jugendmedizin gemeinsam. | |
Die Leitlinie soll umfassender und perspektivischer als andere Richtlinien | |
sein; die spezifischen Rechts- und Versorgungssituation in Deutschland, | |
Österreich und der Schweiz berücksichtigen; Betroffene und ihrer Eltern | |
miteinbeziehen. | |
Das scheint gelungen. Meint zumindest Cecilia Dhejne, die als Stockholmer | |
Fachärztin und Mitautorin einer internationalen Richtlinie hinzugezogen | |
wurde, um die Ergebnisse als unabhängige Expertin zu begutachten. Sie lobt | |
die Verbindung von psychologischen und medizinischen Aspekten mit denen der | |
Ethik und Diskriminierung. „Im Vergleich zu dem, was wir in Schweden haben | |
[…] ist das hier, denke ich, viel besser gemacht“. Das Gremium stimmte den | |
meisten Empfehlungen mit 95-prozentiger Einigkeit zu. | |
## Also, was steht drin? | |
Die erste Änderung liegt schon in der Überschrift, denn dort findet sich im | |
Gegensatz zur alten Leitlinie nicht mehr das Wort „Störung“. Damit schlie�… | |
sich die neue Leitlinie einem internationalen Umdenken an, das | |
stigmatisierende Bezeichnungen abschütteln will. Es soll klar werden: | |
Geschlechtsinkongruenz ist eine Variante biologischer Vielfalt, keine | |
psychische Krankheit. Zu behandeln ist deshalb nur etwaiges Leid, das aus | |
dem Widerspruch entsteht. | |
So steht für trans Kinder fest: Die Behandlung darf nie darauf abzielen, | |
ihre Geschlechtsidentität zu verändern. „Dann wären wir im Bereich der | |
Konversionsmaßnahmen“, erklärt die Psychotherapeutin Sabine Maur in der | |
Pressekonferenz. „Die sind aus guten Gründen in Deutschland verboten.“ Die | |
therapeutische Grundhaltung sollte eine akzeptierende und verlaufsoffene | |
sein. | |
## Nutzen und Nebenwirkungen abwägen | |
Mit Spannung erwartet wurden auch die aktualisierten Empfehlungen zu den | |
sogenannten Pubertätsblockern. Denn auch auf diesem Gebiet gab es in den | |
letzten 25 Jahren viel Forschung – und vielleicht noch mehr Kulturkampf. | |
Während Kinder, die ihre Geschlechtsidentität entdecken, vor allem ein | |
unterstützendes Umfeld brauchen, stellt die Pubertät trans* und non-binäre | |
Kinder mit ihren irreversiblen körperlichen Veränderungen vor schwierige | |
Fragen. Im Journal of Adolescent Research berichten 30 Eltern, wie sehr | |
ihre Kinder darunter leiden, in ein falsches Geschlecht gedrängt zu werden. | |
Studien bescheinigen ein [3][vielfach höheres Suizidrisiko] – [4][besonders | |
vor dem 18. Geburtstag]. | |
In solchen Fällen kann die Medizin die Pubertät und damit die Entscheidung | |
über eine Geschlechtsangleichung hinauszögern. Für viele Eltern ist das | |
Versprechen von sogenannten Pubertätsblockern die einzige Möglichkeit, ihre | |
Kinder zu beruhigen: „In meinem Kopf sind sie ein Rettungsanker“, erklärt | |
eine der Mütter in dem wissenschaftlichen Beitrag. | |
Gleichzeitig muss das Gremium, wie bei jeder medizinischen Behandlung, den | |
langfristigen Nutzen und die Nebenwirkungen abwägen. Das ist einerseits | |
schwierig, weil Jugendliche und ihre Familien sehr früh sehr große | |
Entscheidungen aushandeln. Andererseits, weil die Forschung selbst noch | |
vehement diskutiert. Grundsätzlich werden Pubertätsblocker zwar schon lange | |
eingesetzt und gelten als weitgehend sicher. Es gibt aber auch Hinweise auf | |
körperliche Folgen, zum Beispiel auf das Wachstum und die Knochenqualität. | |
Abzuwarten und nichts zu tun, sei aber keine Option. „Das ist eine absolute | |
Minderheitenmeinung gewesen in unserer Gruppe“, sagt Chefärztin Dagmar | |
Pauli. Den Jugendlichen geht es oft schon sehr schlecht und man könne | |
großen Schaden anrichten, wenn man die Behandlung verweigere. Die | |
Behandlungsstudien zeigen dagegen ein durchmischtes, aber auch zunehmend | |
hilfreiches Bild: geringeres Risiko für Suizid und Depressionen, [5][mehr | |
Zufriedenheit mit Leben und Körper]. | |
## Eine Frage der Selbstbestimmung | |
Für die Medizinethikerin Wiesemann ist die Frage der Pubertätsblocker auch | |
eine Frage der medizinischen Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Hier | |
greift die Leitlinie eine Erklärung des Ethikrates auf, nach der dieses | |
Recht ausdrücklich auch Kindern und Jugendlichen zustehe. Auch wenn sie mit | |
zehn Jahren noch nicht voll selbstbestimmungsfähig seien, so Wiesemann, | |
„sind [ihre] Wünsche nicht einfach unerheblich“. | |
Am Ende steht die Leitlinie Pubertätsblockern zwar abwägend, aber | |
grundsätzlich offen gegenüber. Sie möchte ihren Einsatz zum Beispiel nicht | |
auf medizinische Studien begrenzen. Den wissenschaftlichen Idealstandard, | |
in dem tausende Jugendliche Pubertätsblocker nehmen und die Hälfte | |
unbemerkt einen Placebo, könne man realistisch gesehen wahrscheinlich nie | |
erreichen, so das Gremium. | |
Das entspricht anderen medizinischen Leitlinien und fällt dennoch auf, weil | |
sich Institutionen in Schweden, Finnland und England zunächst eher | |
restriktiv positioniert hatten. Im Widerspruch mit einem Trend wollen sich | |
die Autor*innen allerdings nicht sehen: „Es gibt in Europa mit Ausnahme | |
von Russland kein Land, wo Pubertätsblockade verboten ist“, heißt es auf | |
der Pressekonferenz. In Deutschland fordert nur die AfD ein Verbot. | |
## Individuelle Entwicklung statt starrer Altersgrenzen | |
Nach Ansicht des Gremiums ist Deutschland vielen anderen europäischen | |
Ländern sogar voraus. Viele Voraussetzungen, die dort noch gefordert | |
würden, seien hierzulande längst umgesetzt. Dazu gehöre zum Beispiel die | |
Infrastruktur für eine sorgfältige Diagnostik. Dafür liefert die Leitlinie | |
Behandelnden jetzt sehr konkrete Kriterien: Pubertätsblocker kommen demnach | |
dort in Frage, wo neben anhaltender Inkongruenz auch ein großer | |
Leidensdruck bestehe. Also zum Beispiel bei Kindern, die schon lange mit | |
ihrem zugewiesenen Geschlecht hadern oder längst ein anderes leben. | |
Neben Expert*innen für eine psychotherapeutische Einschätzung, sollen | |
auch Ärzt*innen mit Fachwissen zu Kindern und Hormonen hinzugezogen | |
werden. In jedem Fall muss das Einverständnis der Erziehungsberechtigten | |
vorliegen und es müssen Nebenwirkungen und perspektivische Schritte | |
besprochen werden. | |
Starre Altersgrenzen hat das Gremium bewusst vermieden. Es sei besser, die | |
körperliche und mentale Entwicklung individuell zu betrachten, so die | |
Autor*innen der Leitlinie. Wichtig sei es auch, offen und in gutem | |
Kontakt zu bleiben. Denn auch in den sehr seltenen Ausnahmefällen, wo sich | |
Patient*innen mit der Zeit umentscheiden, gäbe es „ein Recht auf | |
Irrtum“, sagt der Kinder- und Jugendmediziner Achim Wüsthof. Das oberste | |
Ziel sei in jedem Fall immer das langfristige Wohlbefinden der Kinder und | |
Jugendlichen. Dafür wollen sie alle Wege ausschöpfen. | |
5 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Archaeologie-zu-Geschlechteridentitaeten/!5939854 | |
[2] /Umgang-mit-Trans-Menschen/!5997826 | |
[3] https://assets.cureus.com/uploads/review_article/pdf/145464/20230320-3453-n… | |
[4] https://www.ajpmonline.org/article/S0749-3797(20)30183-5/abstract | |
[5] https://www.annualreviews.org/content/journals/10.1146/annurev-med-043021-0… | |
## AUTOREN | |
Franca Parianen | |
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