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# taz.de -- Essay von Mely Kiyak: Facetten des Selbst
> Offen und zärtlich, von existenzieller Dimension: Die Autorin und
> Kolumnistin Mely Kiyak erkundet die Macht der sozialen Verhältnisse im
> Frausein.
Bild: Mely Kiyak Essay lässt an großen Essayistinnen des angelsächsischen Ra…
Selten hat man sich von einem Titel so gerne in die Irre führen lassen wie
von [1][Mely Kiyaks] „Frausein“! Könnte man doch meinen, man habe es mit
dem beliebten Genre des Benachteiligungsbuches zu tun. Eines Buches also,
dass die lange Liste von Benachteiligungsformen, die einem beim Frausein
entgegenschlagen, auflistet. Und dabei stets wie eine auf Sparflamme
produzierte, universitäre Hausarbeit wirkt: These und zusammenkopierte
Studienergebnisse, synthetisiert, fertig! Es reicht für eine 2,3. Anders
bei Kiyak.
Obgleich Kiyak in ihrem Essay alle identitätspolitischen Vokabeln
durcharbeitet – das Frausein, den sogenannten Migrationshintergrund, das
Heterosein, das Nicht-Muttersein-, verrennt sich der Text nicht in den so
gesteckten Koordinaten. „Ich will keine Unten-Erzählerin sein.“
Ihr Schreiben hat eine existenzielle Dimension. Es beginnt in der Kindheit,
„ohne äußere Einflüsse“. Sie schreibt nicht für die Bibliothek, für das
Bücherregal der Eltern. „Es gab gar kein Buchregal.“ Ein Möbel, das nur d…
Verwahrung von Büchern dient, prätentiös wäre das.
## Erzählen statt erklären
Ob nun ohne äußeren Einfluss oder nicht, allein dass Kiyak, das Kind von
kurdischen Einwanderern, schreibt, fügt der allgemeinen Erzählung eine
Stimme hinzu, denn: „Was es über uns zu berichten gab, wurde fremderzählt.�…
Gemeint sind Geschichten und Reportagen wie jene von Günter Wallraff, der
sich hierfür nach „ganz unten“ begibt. „Jemand hatte sich als ‚wir‘
verkleidet, unser Leben simuliert und mitgeteilt.“ Auf die Idee, dass die
Einwanderer, die „Gastarbeiter“ selbst erzählen wollten, kam man natürlich
gar nicht. „Man soll immerzu erklären. Man will aber lieber erzählen.“
Die Differenz, die sich zwischen Erklären und Erzählen auftut, ist genau
der Raum, in dem sich der Essay als Text öffnet. Hier fallen Reflexion, die
immer auch der Ansatz für Erklärung ist, und das Erzählen zusammen.
„Schreiben ist Sortieren und Sichtbarmachen und der Versuch, sich in ein
Verhältnis zur Welt zu setzen.“
## Didion, Cusk und Solnit
Man liest einen Essay, der in seiner sprachlichen Klarheit und Schönheit an
die großen Essayistinnen des angelsächsischen Raums denken lässt, an die
Didions, Cusks und Solnits. Da schillert es sprachlich, und obgleich Kiyak
aus ihrem Leben erzählt, ist der literarische Formwillen spür- und lesbar.
Kiyak erzählt von der Mutter, die als Putzfrau arbeitet, dem Vater, der in
Schichten arbeiten, buchstäblich bis zum Umfallen. Immer bestärken sie die
Tochter, wollen Bildung, Aufstiegschancen fürs Kind. Und doch: Hockt es
nicht zu oft am Schreibtisch?
Schließlich studiert die Tochter. „In der Vorstellung ist es schön, ein
Mädchen großzuziehen und zum Studieren zu schicken, aber in der Realität
ist es schwer“, sagt der Vater sehr ehrlich. Die Tochter entfernt sich
räumlich, intellektuell, emotional.
Der Vater schleppt aus dem örtlichen Aldi Sonderangebote an, alles, das
etwas mit Stiften zu tun hat, weil sie doch schreibt. Auch einen
Insulin-Pen ist darunter. Er hat das Wort „Stift“ darauf entziffert.
## Die Frauen lenken und bestrafen
Der Vater ist liebevoll. Alle Männer der Familie sind nachgiebiger, weicher
als die Frauen. „Es waren die Frauen, die lenkten, bestraften, verziehen
oder verstießen.“ Und also kommt doch noch einmal die Rede aufs Frausein.
Für kurdische Frauen ist Weiblichkeit mit einer spezifischen Form der Würde
verknüpft. Sie bedeutet Schönheit, „Lebens- und Liebeslust“, sie ist die
Voraussetzung eines gelungenen Lebens: „Was sonst ist denn das Frausein,
wenn nicht das?“
Gerahmt wird der Essay von einem persönlichen Katastrophenfall. Ein
Augenproblem, das ein verengtes Sehfeld und plötzlichen Sehkraftverlust zur
Folge hat. Es folgen Operationen, die nicht glücken und die Autorin mit
Linsen zurücklassen, deren Inneres wie eine CD im CD-Player rotiert und die
von den Rändern her leuchten.
Ein Bild ist das. Auch für ein Schreiben, das in einem migrantischen,
„bildungsfernen“ Milieu beginnt, um dann kristallklar zu sich selbst zu
finden.
3 Sep 2020
## LINKS
[1] /Utopie-und-Unabhaengigkeit/!5034562
## AUTOREN
Marlen Hobrack
## TAGS
Literatur
Essay
Migrationshintergrund
Frauen
wochentaz
Buch
Literatur
Feminismus
Schwerpunkt Türkei
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