# taz.de -- Vorwort zu „Taksim ist überall“: Etwas Besseres als das, was i… | |
> Der derzeit inhaftierte Journalist Deniz Yücel schrieb über die | |
> Gezi-Proteste. Nun erscheint eine aktualisierte Neuauflage. Ein | |
> Vorabdruck des Vorworts. | |
Bild: Deniz Yücel 2015 im türkischen Nusaybin | |
„Hallo Deniz, wie geht es dir?“ – „Super. Ich muss nur grad noch schnell | |
jemanden treffen, der unbedingt ins Buch muss, und das Kapitel muss heute | |
fertig werden. Wir telefonieren morgen länger, ja?“ So liefen die Gespräche | |
mit Deniz über Monate, während er an diesem Buch schrieb. Wie viele | |
Menschen er für „Taksim ist überall“ getroffen hat, weiß Deniz sehr gena… | |
Wie viele Zigaretten er dabei geraucht hat, nicht. Ein paar Schachteln | |
halt. Als Deniz am 13. Februar dieses Jahres in Polizeigewahrsam genommen | |
wurde, durfte er nicht mehr rauchen. | |
Die türkische Justiz hat ihm aber nicht nur seine Zigaretten weggenommen. | |
Er darf auch nicht mehr schreiben. Deswegen konnte er die Korrekturen für | |
die Neuauflage dieses Buches nicht selbst besorgen. Er hat Freunde und | |
Kollegen gebeten, diesen Job zu übernehmen: Mely Kiyak, Ronald Düker, Arno | |
Frank, Regina Stötzel, Leo Fischer, Christoph Ehrhardt, Yasemin Ergin, | |
Silke Mülherr, Yassin Musharbash, Jörg Sundermeier, Enrico Ippolito, Paul | |
Wrusch, Can Merey und uns drei, die wir auch dieses Vorwort schreiben. | |
Die Behörden haben Deniz auch die Freiheit genommen, mit all seinen | |
geliebten Istanbulern stundenlang zu reden, Tee zu trinken und zu rauchen, | |
und die Freiheit, stundenlang zu erzählen, was seine geliebten Istanbuler | |
ihm erzählt haben. Als Deniz dieses Buch schrieb, war er Redakteur der taz. | |
2015 bekam er seinen Traumjob: Türkei-Korrespondent in Istanbul für Die | |
Welt. Wenn man Deniz nun besuchte und er gerade nicht mit der Welt | |
telefonierte oder für sie schrieb, blieb man ständig irgendwo stehen: vor | |
einem Köftegrill, vor einer Moschee, vor einem Hotel, vor einem Taxistand. | |
Überall musste Deniz eine Geschichte loswerden, über Leute, die er in | |
seinem Buch porträtiert hatte und über Leute, die es nicht ins Buch | |
geschafft hatten. Taksim war eben überall. Auch 2014 noch, als dieses Buch | |
ein Jahr nach dem Ende der Gezi-Proteste zum ersten Mal erschien. | |
Doch inzwischen hat sich viel verändert. | |
Seither muss die Türkei erdulden, was kaum zu erdulden ist. Das Land findet | |
nicht mehr zur Ruhe und fügt sich neue Wunden zu, während die alten noch | |
nicht geheilt sind. Was nach der ersten Parlamentswahl am 7. Juni 2015 | |
begann, setzt sich bis heute fort: eine politische Dauerkrise und eine | |
tiefe Spaltung der Gesellschaft, die kein Ende zu kennen scheint. Da sind | |
die wieder aufgeflammten Kämpfe zwischen den türkischen Sicherheitskräften | |
und kurdischen Aktivisten und Kämpfern; da sind die Anschläge, verübt von | |
Anhängern des sogenannten Islamischen Staates oder der verbotenen | |
kurdischen Arbeiterpartei PKK und anverwandten Splittergruppen – und zwar | |
nicht mehr irgendwo in der Provinz, ganz weit im Osten. Nein, sie finden im | |
Westen statt, mitten in Istanbul oder Ankara. Und da ist eine Regierung, | |
die sich offensichtlich dazu entschieden hat, den autoritären Weg | |
einzuschlagen. Besonders deutlich wird dies seit dem vereitelten | |
Putschversuch vom 15. Juli 2016. | |
Es gab eine Zeit, da der heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan als | |
Hoffnungsfigur für das Land galt. Er setzte Reformen durch, öffnete das | |
Land für Europa und die EU, er begann Friedensgespräche mit dem Staatsfeind | |
PKK und ging damit ein hohes politisches Risiko ein. Heute geht es ihm | |
darum, mit einer Verfassungsänderung die Macht zu konzentrieren – auf sich | |
selbst, den starken Präsidenten. | |
Und immer sterben junge Menschen. Ob Soldaten, Demonstranten, Polizisten, | |
Nachtschwärmer wie im Club Reina an Silvester. Der 21-jährige | |
Medizinstudent, der einfach nur zur falschen Zeit am Beşiktaş-Stadion | |
vorbeifuhr und bei einem Attentat getötet wurde. Oder all die namen- und | |
gesichtslosen jungen Frauen und Männer, die die PKK in die Schlacht mit der | |
Staatsmacht schickt wie seit vierzig Jahren. | |
Ist Taksim noch überall? Gibt es in der Türkei von heute noch diese | |
Möglichkeit des Aufbruchs, für die der Platz im Herzen Istanbuls steht? | |
Jetzt, wo sie sogar den Autor dieses Buches eingesperrt haben? | |
Auf den folgenden Seiten beschreibt Deniz Yücel auch, wie die Erzählung von | |
den Aufbrüchen der Vergangenheit selbst Jahrzehnte später Einzelne | |
beflügeln kann, ganze Generationen vielleicht. Selbst wenn die Revolten von | |
damals gescheitert sind, zeigen ihre Geschichten, dass sich selbst unter | |
den abstrusesten Verhältnissen Menschen aus unterschiedlichsten Richtungen | |
kommend begegnen und sich gemeinsam etwas Besseres einfallen lassen können | |
als das, was ist. Und dass daraus eine Kraft entstehen kann, die in wenigen | |
Wochen einen über Jahrzehnte zementierten Zwangsstaat infrage stellt. | |
Ja: So schnell, wie das entsteht, kann es auch zerfallen. Aber es wird | |
immer wieder kommen, solange Menschen freien Austausch und Gemeinsamkeit | |
als klügere Grundlage für ihr Zusammenleben erkennen können. Darum ist | |
Taksim immer noch überall. Die Menschen, die dem Leser in diesem Buch | |
begegnen, gibt es noch immer. Wo sie verschwunden sind, bleiben ihre | |
Geschichten, und wo Geschichten sind, gibt es Chancen. Auch im Gefängnis. | |
In der Haftanstalt Silivri diktierte Deniz Anfang März 2017 einer | |
Besucherin eine Nachricht für seine Freunde und Unterstützer. Sie handelt | |
von der Qual des Alleinseins. Aber zum Schluss lässt er seine Besucherin | |
Folgendes aufschreiben: „Weder meine eigene Situation noch die dieses | |
Landes, das ich trotz allem liebe, werden so bleiben, wie sie sind.“ | |
von Doris Akrap, Daniel-Dylan Böhmer und Özlem Topcu | |
11 Apr 2017 | |
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