# taz.de -- Debatte Referendum in der Türkei: Wahlkampf als Dauerzustand | |
> Der türkische Staatschef Erdoğan verfolgt eine Mission, er mystifiziert | |
> das Osmanische Reich. Ein „Nein“ wäre für ihn nur der Start zum neuen | |
> Anlauf. | |
Bild: Wird den Beitrittsprozess zur EU auf die eine oder andere Art beenden: Re… | |
„Sollte das Neinlager tatsächlich siegen, kommen schwierige Zeiten auf uns | |
zu. Präsident Recep Tayyip Erdoğan wird ein solches Votum niemals | |
akzeptieren“. Der das sagt, ist auf der türkischen politischen Bühne kein | |
Unbekannter. Ertuğrul Kürkçü ist Abgeordneter der kurdisch-linken HDP, aber | |
vor allem einer der erfahrensten linken Politiker der Türkei. | |
Und er ist nicht der Einzige, der so denkt. Je näher die Abstimmung am | |
Ostersonntag kommt und je länger die Umfrageergebnisse auf ein | |
Kopf-an-Kopf-Rennen hindeuten, desto mehr steigt die Angst vor dem Tag | |
danach. Jeder rechnet mit heftigen Reaktionen auf ein Nein, und gerade | |
deshalb versuchen die Sprecher der Opposition zu beschwichtigen. | |
Wenn ein Nein kommt, sagt Kemal Kılıçdaroğlu, Oppositionsführer im | |
Parlament und Vorsitzender der CHP, bleibt ja alles beim Alten. Die | |
Regierung bleibt die gleiche und auch Präsident Erdoğan bleibt bis zu den | |
Wahlen 2019 zunächst einmal Präsident. | |
## Grundsätzliche Entscheidung | |
Formal stimmt das, doch so einfach ist es nicht. Wenn das Neinlager gewinnt | |
und Erdoğan diese Niederlage akzeptiert, wäre das der Anfang vom Ende | |
seiner Herrschaft. Die Opposition wäre enorm gestärkt, der Nimbus der | |
Unbesiegbarkeit des großen Führers wäre dahin. Viele Parteimitglieder, die | |
mit dem autoritären, aggressiven Stil Erdoğans nicht einverstanden sind und | |
seine ideologisch bedingte Ausrichtung des Landes auf den islamischen Raum | |
ablehnen, würden sich dann trauen zu widersprechen. | |
Eine Spaltung, wie sie sich jetzt bereits innerhalb der | |
ultranationalistischen MHP vollzieht, wo ein großer Teil der | |
Parteimitglieder die Unterstützung des Erdoğan-Kurses ablehnt, wäre auch in | |
der AKP nicht mehr ausgeschlossen. | |
Doch das sind taktische Erwägungen. Im Kern geht es um wesentlich | |
grundsätzlichere Fragen. Recep Tayyip Erdoğan sieht sich längst nicht mehr | |
als normaler Politiker, der zurücktritt, wenn er eine Niederlage an der | |
Wahlurne erleidet, sondern als Mann mit einer Mission. Die Devise von | |
Donald Trump, das eigene Land „great again“ zu machen, ist schon lange auch | |
der Slogan von Erdoğan, nur dass er damit nicht den Rückblick in die 50er | |
Jahre meint, sondern den Mythos des Osmanischen Reiches beschwört, als die | |
Türken noch ein Weltreich kontrollierten. Er ist der von Gott ausersehene | |
Führer, der die Türkei wieder stark machen wird. Bei dieser Mission kann es | |
Rückschläge geben, aber keine Niederlagen. | |
Für Erdoğan und seine Planer ist der 16. April der Beginn einer neuen Ära. | |
Alles, was bis dahin passierte, waren nur die Vorbereitungen auf den großen | |
Umbau, der dann folgen wird. Das betrifft die Innen-, aber auch die | |
Außenpolitik. Schon jetzt ist klar, dass Erdoğan den jahrzehntelangen | |
Beitrittsprozess zur EU auf die ein oder andere Weise beenden wird. Er | |
versucht, innenpolitisch daraus noch einmal Kapital zu schlagen, indem er | |
das Zerwürfnis inszeniert und in Anlehnung an die Briten davon redet, die | |
Türkei würde die Kontrolle über ihre eigenen Angelegenheiten zurückgewinnen | |
und sich nicht mehr hineinreden lassen. | |
## Kein Diktator des alten Stils | |
Eine Anbindung an Europa, die letztlich bereits im Osmanischen Reich begann | |
und von der Republik Türkei weiter fortgesetzt wurde, passt nicht mehr in | |
Erdoğans Konzept einer neuen Türkei. Damit würde der 16. April, so Erdoğan | |
gewinnt, auch zu einer außenpolitischen Zäsur, die weit über die Frage der | |
Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen hinausgeht. Dieser Gesamtkontext ist | |
es, der viele Analytiker in der Türkei zu der Annahme veranlasst, dass | |
Recep Tayyip Erdoğan einen Sieg des Neinlagers nicht akzeptieren kann. | |
Doch Erdoğan ist auch kein Diktator alten Stils. Er will nicht nur mithilfe | |
der Geheimpolizei regieren, sondern er will die Zustimmung „seines Volkes“. | |
Wahlkampf ist für Erdoğan sein eigentlicher politischer Aggregatzustand. Er | |
macht eigentlich immer Wahlkampf, und er verfügt mittlerweile über ein | |
Wahlkampfteam, das alle Tricks der modernen Massenmanipulation beherrscht. | |
Das Vorbild für den Umgang mit einem Nein dürfte deshalb die Wahlniederlage | |
der AKP bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 sein. Damals verlor die AKP | |
10 Prozent der Stimmen und damit ihre absolute Mehrheit. Die AKP hätte eine | |
Koalitionsregierung bilden müssen, und Erdoğan hätte als Präsident den | |
Zugriff auf die Regierung verloren. Erdoğan wollte das nicht akzeptieren. | |
Er verhinderte eine Koalitionsregierung und setzte Neuwahlen für den | |
November 2015 durch. Was folgte, war einer der blutigsten Wahlkämpfe der | |
türkischen Geschichte, bei dem durch Terroranschläge, die angeblich alle | |
auf das Konto des IS gingen, die kurdisch-linke HDP mehr als 200 Mitglieder | |
und Anhänger verlor. | |
Für Erdoğan wäre ein Nein auch jetzt nur der Start zu einem neuen Anlauf. | |
Niemand kann schon jetzt sagen, in welcher Weise eine neue Kampagne | |
inszeniert würde, doch das Vorbild des Wahlkampfs für die Novemberwahl 2015 | |
lässt Übles ahnen. | |
## Talfahrt der Wirtschaft | |
Die einzige Frage ist, ob die türkische Wirtschaft und die Gesellschaft | |
insgesamt eine Fortsetzung der Spannungen noch aushalten. Die seit dem | |
Putschversuch im vergangenen Juli bestehende Unsicherheit hat bereits jetzt | |
dazu geführt, dass das Wachstum stark zurückgegangen ist und die | |
Arbeitslosigkeit entsprechend stark zugenommen hat. Das Zerwürfnis mit der | |
EU tut ein Übriges, um die türkische Wirtschaft auf Talfahrt zu schicken. | |
Erdoğan müsste entsprechend gegen eine sich ständig verschlechternde | |
wirtschaftliche Situation ankämpfen. | |
Doch er kann auf einen Faktor hoffen, der sich vor allem in | |
Bürgerkriegsländern immer wieder zeigt. Die völlige Ermattung der | |
Kontrahenten führt dazu, dass die Kämpfe eingestellt werden. Ähnlich ist es | |
in der Türkei. Die Bevölkerung, egal ob Erdoğan-Anhänger oder -Gegner, ist | |
mittlerweile völlig zermürbt und will nur noch Ruhe. Auch Widerstand | |
erlahmt irgendwann, wenn man sich nur noch nach einer wie auch immer | |
gearteten Normalität sehnt. | |
Doch es kann auch anders kommen: „Wenn Nein gewinnt, werden wir versuchen, | |
unsere Köpfe über Wasser zu halten“, sagt Ertuğrul Kürkçü. | |
13 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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