# taz.de -- Vor dem Referendum in der Türkei: Der Präsident zittert | |
> Ein Ja bei der Abstimmung in der Türkei ist alles andere als sicher. | |
> Erdoğans Referendum könnte sich als große Dummheit entpuppen. | |
Bild: Ein Evet für den Präsidenten: Wahlkampf am Samstag in Istanbul | |
BERLIN taz | Es schien wie sonst auch kurz vor dem Ende einer wichtigen | |
Wahlkampagne des türkischen Präsidenten. Recep Tayyip Erdoğans letzter | |
Auftritt in Istanbul vor dem Referendum am Sonntag fand auf einem dem Meer | |
abgerungenen gigantischen Platz in Yenikapı statt. Wie schon bei | |
verschiedenen Anlässen zuvor kamen am vergangenen Samstag angeblich über | |
eine Million Anhänger. | |
Sie schwenkten ihre Türkeifahnen und „Evet“-Transparente. Erdoğan landete… | |
wie immer verspätet – mit seinem Hubschrauber hinter der Bühne. Und in | |
seiner Rede rückte er erneut diejenigen, die seine angestrebte | |
Präsidialverfassung ablehnen, in die Nähe von Terroristen. | |
Und doch war nicht alles wie immer. Erdoğan und seinem Ministerpräsidenten | |
Binali Yıldırım, die in Yenikapı zusammen auftraten, fehlte die | |
Siegesgewissheit, die sie bei früheren Anlässen ausstrahlten. Wenige Tage | |
vor dem Referendum sind beide hochnervös. Ihnen geht die Souveränität ab, | |
mit der Erdoğan die Stimmen der Opposition in anderen Wahlkämpfen an sich | |
abprallen ließ. Jetzt reagiert er empfindlich und wenig überzeugend auf | |
politische Angriffe. | |
Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP | |
und Oppositionsführer im Parlament, hatte vor einigen Tagen ausgesprochen, | |
was viele Türken und Beobachter der Türkei seit langem vermuten: Der | |
Putschversuch vom 15. Juli letzten Jahres, dem 240 Menschen zum Opfer | |
fielen, hätte vermieden werden können. Erdoğan habe rechtzeitig von den | |
Plänen erfahren, habe die Putschisten aber für seine Zwecke genutzt – nicht | |
zuletzt um die Verfassungsänderung voranzubringen, über die nun abgestimmt | |
wird. | |
Das ist eigentlich ein ungeheuerlicher Verdacht. Viele Indizien sprechen | |
aber für diese Vermutung, auf die Erdoğan erstaunlich schwach reagierte. | |
Der Vorwurf beleidige die Toten und ihre Angehörigen. Das war alles, was | |
ihm dazu einfiel. | |
## Zweifler unter den AKP-Wählern | |
Die Unsicherheit Erdoğans und seiner engsten Umgebung hat einen guten | |
Grund. Erdoğan hat in den Umfragen immer noch keine Mehrheit für seinen | |
angestrebten Systemwechsel zu einem autokratischen Präsidialsystem. Und | |
dass trotz des geballten Einsatzes aller staatlichen Ressourcen für die | |
Ja-Kampagne, vielfältiger Auftrittsverbote und Hindernisse für die | |
Nein-Kampagne und eines nun schon seit Wochen anhaltenden medialen | |
Trommelfeuers. Eine Nichtregierungsorganisation hat für die Zeit vom 1. bis | |
20. März in den 17 landesweiten Fernsehsendern 300 Sendestunden für die AKP | |
und Erdoğan gezählt, also auf allen Kanälen gemeinsam 15 Stunden am Tag. | |
Die Mehrheit der Türken, darunter viele seiner eigenen Anhänger und Wähler, | |
haben das von ihm angestrebte Präsidialsystem schon immer abgelehnt. Ohne | |
den Putschversuch und die danach angeheizte Nationalismus-Welle hätte es | |
der Entwurf der neuen Verfassung wohl niemals durchs Parlament geschafft. | |
Immer noch fragen sich viele AKP-Wähler, warum sie dieser, auf die Person | |
Erdoğan zugeschnittenen Verfassung, ihren Segen geben sollen. | |
„Was passiert, wenn Erdoğan stirbt und ein Präsident gewählt wird, der sich | |
gegen die AKP stellt?“, fragt ein besorgter Konservativer, der wie fast | |
alle Gesprächspartner namentlich nicht genannt werden will. „Dann sind wir | |
vielleicht unseres Lebens nicht mehr sicher“. | |
## Erdoğan braucht die frommen Kurden | |
Gegen Erdoğans Präsidialverfassung hat sich mittlerweile eine Koalition | |
zusammengefunden, die es bei Parlamentswahlen so nie geben würde. Ein | |
Anliegen eint die Partner: Aus unterschiedlichen Motiven wollen sie die, | |
aus ihrer Sicht, geplante Präsidialdiktatur verhindern. | |
Unter ihnen finden sich natürlich die überzeugten Erdoğan-Gegner aus dem | |
säkularen, bürgerlichen, liberalen und linken Lager, die Erdoğan sowieso | |
nicht für sich gewinnen kann. Zu ihnen zählt aber auch ein großer Teil der | |
rechts-nationalistischen MHP-Wähler, der anders als ihr Parteivorsitzender | |
Devlet Bahçeli entschieden dagegen ist, dass sich die MHP Erdoğan | |
unterordnet. Mehrere Herausforderer Bahçelis führen dieses Lager an und | |
finden in der Wählerschaft der MHP wesentlich mehr Unterstützung als die | |
offizielle Parteilinie, die für ein Ja wirbt. | |
Und dann sind da die Kurden. Erdoğan braucht die konservativen, gläubigen | |
Kurden, um zu gewinnen. Sein brutales Vorgehen gegen die tatsächlichen oder | |
vermeintlichen PKK-Anhänger und vor allem die Repression gegen die legale | |
kurdisch-linke Partei HDP, deren Führung er bereits vor Monaten ins | |
Gefängnis geworfen hat, schreckt auch die konservativen Kurden davon ab, | |
dieses Mal wieder ja zu Erdoğan zu sagen. | |
Erdoğan hatte deshalb ursprünglich voll auf die Nationalisten der MHP | |
gesetzt. Erst als die Analytiker merkten, dass viele MHP-Wähler gegen die | |
Reform stimmen wollen, versuchte er, das Steuer herumzureißen, und ging | |
doch noch auf die frommen Kurden zu. | |
## Wird die Wahl manipuliert? | |
Doch dieses Manöver ist so durchsichtig, dass es ihm bei den Kurden wohl | |
wenig nutzt und stattdessen bei den Nationalisten weiter schadet. Geht es | |
bei der Abstimmung am Sonntag mit rechten Dingen zu, sind die Chancen für | |
ein Nein deshalb größer als für ein Ja. | |
Doch daran gibt es jetzt schon erhebliche Zweifel. Türken in Europa, die in | |
den Konsulaten mit Nein gestimmt haben, fürchten, dass an den Urnen | |
manipuliert wird, bevor sie zur Auszählung in der Türkei landen. Der | |
Vertreter der OSZE-Wahlbeobachter in Ankara, Michael Georg Link, beklagt | |
bereits jetzt massive Einseitigkeit und einen unfairen Wahlkampf. Wenn | |
trotz allem ein Ja herauskommt, werden viele die Legitimität des | |
Wahlergebnisses wohl bezweifeln. | |
Der Publizist Etyen Mahçupyan, der zum Beraterstab des früheren | |
Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu gehörte, sagte kürzlich, das Referendum | |
sei die größte Dummheit, die Erdoğan einfallen konnte. „Er hatte doch | |
bereits die ganze Macht und hätte bei immer weiterer Verlängerung des | |
Ausnahmezustands noch Jahre per Dekret regieren können. Warum dann dieses | |
Risiko?“ Mahçupyan will am Sonntag mit Nein stimmen. | |
Lesen Sie auch: [1][Zwei Szenarien für das Referendum], einen [2][Essay zu | |
Erdoğans Angstpolitik] des Schriftstellers Zafer Şenocak sowie eine | |
[3][Reportage über die unentschiedenen Wähler] in der Türkei. | |
12 Apr 2017 | |
## LINKS | |
[1] /Zwei-Szenarien-fuer-die-Tuerkei/!5400791 | |
[2] /Essay-zu-Erdogans-Angstpolitik/!5396770 | |
[3] /Kurz-vor-dem-Referendum/!5400641 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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